Wie Sebastian Kurz gibt Aleksandar Vučić Menschen das Gefühl, dass er ihnen zuhört, dass er sie ernst nimmt.

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Der gesamte Slavija-Platz im Belgrader Stadtzentrum ist vom Duft der Lindenblüten eingehüllt, so wie die meisten Straßen der Stadt. Es ist nicht viel los und vom Wahlkampf kaum etwas zu merken, alle Wahlkampfveranstaltungen wurden wegen der Pandemie abgesagt. Der wichtigste Mensch in der serbischen Politik, der bei den Parlamentswahlen am Sonntag gar nicht gewählt werden konnte, weil er ja bereits Präsident ist, ist auf keinem Plakat zu sehen. Er ist aber trotzdem allgegenwärtig.

Stevo P., ein freundlicher Pensionist, der seine weißen Haare fein zurückgekämmt trägt, versucht das Phänomen Aleksandar Vučić so zu erklären: "Seit er 2012 an die Macht kam, sind die ausländischen Firmen nach Serbien gekommen. Es gab wieder mehr Arbeit, und die Löhne sind gestiegen." Serbien sei eben ein Land mit wenig Arbeitsrechten und sozialer Absicherung, also sei das das Wichtigste. "Außerdem schau dich mal um, überall gibt es neue Bauten und mehr Infrastruktur. Auch an der Autobahn wird gebaut. Wir leben in einer Zeit des Aufbaus, und das alles trägt den Schriftzug von Vučić."

Viele gingen nicht wählen

Hier in Serbien sei man noch von der türkischen Zeit geprägt, fügt er hinzu – und meint die 350 Jahre, in denen Serbien zum Osmanischen Reich gehörte, deshalb gebe es viel Günstlingswirtschaft. Der 73-Jährige ist ein überzeugter Wähler, viele – vor allem jüngere Menschen – sind hingegen nicht zur Wahl gegangen, weil sie keine Alternative zu Vučić hatten, wie etwa der 20-jährige Mihajlo S., der am Spielplatz auf einer Parkbank sitzend liest. "Die Pensionisten wählen natürlich Vučić, weil sie das Gefühl haben, dass er sich um sie kümmert und weil er ja auch im Fernsehen dauerpräsent ist. Ich finde es kontraproduktiv, dass viele andere Parteien die Wahlen boykottiert haben, dadurch bekommt er noch mehr." Viele Menschen auf dem Slavija-Platz schütteln nur energisch den Kopf, wenn man sie fragt, ob sie wählen gehen.

Laut ersten Ergebnissen liegt die Partei "Für unsere Kinder", die auch nach dem Staatschef benannt ist, bei knapp 63 Prozent. Sie wird wohl bei der Sitzverteilung im Parlament eine Zweidrittelmehrheit haben. Die Wahlbeteiligung lag bei etwa 49 Prozent.

Kein Hetzer

Obwohl der Staatschef mit Hang zum Autoritarismus in Belgrads progressiven Zirkeln vor allem wegen seiner Missachtung der Medienfreiheit und der Rückentwicklung der Demokratie unter schwerer Kritik steht, konnte bisher noch kein serbischer Politiker seit 1990 einen derart großen Anteil der Wähler überzeugen. Dabei ist Vučić kein brillanter Redner. Mit seiner sonoren Stimme hält er oft pathetische Reden.

Doch er gilt als fleißig – tatsächlich arbeitet er bereits in den frühen Morgenstunden. Viele Leute haben den Eindruck, dass er sich für sie einsetzt. Als positiv wird auch gesehen, dass er nicht gegen andere hetzt und die nationalistische Propaganda für hiesige Verhältnisse in Maßen hält.

Westen gegen Osten ausspielen

Wie auch Sebastian Kurz gibt Aleksandar Vučić anderen Leuten das Gefühl, dass er ihnen zuhört, dass er sie ernst nimmt. Der Präsident wirkt nicht arrogant. Geschickt sorgt er auch dafür, dass er immer wieder mit internationalen Politikern zusammenkommt. Er nutzt die alte Masche von Tito, den Westen gegen den Osten auszuspielen, und gibt gleichzeitig den Bürgern in Serbien das Gefühl: "Wir sind wieder wer."

Die Popularität dieser Politik von Aleksandar Vučić hat auch damit zu tun, wie die meisten Bürger in Serbien ticken. 60 Prozent haben laut einer Umfrage des National Democratic Institute aus dem Jahr 2018 eine positive Meinung von Russland, 56 Prozent von China, aber nur 27 Prozent von der EU – der weitaus niedrigste Wert in ganz Südosteuropa. Nur 45 Prozent der Bürger wollen wirklich einen EU-Beitritt, 39 Prozent sind dagegen. 55 Prozent der Befragten denken, dass Russland der Nato überlegen sei. Die Vorliebe für Russland ist seit dem Aufstieg von Vučić, ab 2013, um 20 Prozent gestiegen.

43 Prozent wünschen sich autoritären Führer

Gebildeten Menschen in Belgrad und anderen Städten sind Demokratisierung und bürgerliche Freiheiten wichtig, aber für die allergrößte Mehrheit der Bürger sind Arbeitslosigkeit und höhere Löhne die beiden größten Anliegen. In Serbien gibt es immer noch eine gewisse Nostalgie gegenüber Autoritarismus, vielen fehlt es an einem tieferen Verständnis für die Bedeutung von Gewaltenteilung und unabhängigen Institutionen.

Laut einer neuen Umfrage der Westminster Foundation for Democracy sagen 49 Prozent der befragten serbischen Bürger, dass sie demokratisch regiert werden wollen, 43 Prozent wünschen sich einen autoritären Führer, und acht Prozent meinen, sie seien zwar schon für Demokratie, aber sie wollten trotzdem eine "eiserne Faust" an der Macht. 26 Prozent meinen, sie würden keine Frau zur Präsidentin wählen, 75 Prozent keinen Homosexuellen, und 70 Prozent würden nicht jemanden wählen, der kein Serbe ist.

Ausgeprägter Personenkult

Der Leiter des Zentrums für Südosteuropa-Studien an der Universität Graz, Florian Bieber, spricht in seinem neuesten Buch über den "Aufstieg des Autoritarismus auf dem Westbalkan" von einem neuen Typus eines Autokraten, der sich formal dem EU-Beitritt und der Demokratie verpflichtet hat. Vučić kommt aus der Serbischen Radikalen Partei, die in den 1990er-Jahren und danach einen brutalen rassistischen Nationalismus verfolgt hat. Aus dieser hat er die Fortschrittspartei herausgelöst und wurde vor allem in Westeuropa als Hoffnungsfigur gesehen und massiv unterstützt. Gleichzeitig aber zentralisierte er die Macht, und die Institutionen des Staates wurden immer abhängiger und schwächer.

Im Wahlkampf fiel vor allem der Personenkult um Vučić auf. In einem Fernsehspot ist eine Familie zu sehen, die in einer Stadtwohnung in der Sommerhitze leidet und beschließt – dank der neuen Autobahn im Süden –, nach Griechenland zu fahren. In der nächsten Sequenz sitzt das Ehepaar tatsächlich in Griechenland am Strand, die Frau öffnet das Amulett, das sie an ihrem Hals getragen hat, und darin ist nicht etwa ein Foto ihres Mannes zu sehen, nein, Vučić lächelt aus dem Schmuckstück.

Opferkult als Teil des Nationalismus

Oft gibt sich Vučić als Bedrohter. In den Medien, die ihm direkt dienen, wird immer wieder darüber geschrieben, dass er von bösen ausländischen Mächten verfolgt wird, dass ein Anschlag gegen ihn geplant sei oder dass er extrem ungerecht behandelt wird. Viele Bürger machen durch diese Strategie den Schulterschluss mit ihrem "verfolgten" Staatschef. Das alles greift auch deshalb so gut in Serbien, weil ja bereits ein Regierungschef, nämlich Zoran Đinđić 2003, ermordet wurde. Opferkult ist zudem besonders in Südosteuropa eng mit Nationalismus verbunden. Es gibt kaum ein Narrativ, das so gut und sofort zieht. (Adelheid Wölfl, 22.6.2020)