Es ist eine gefährliche Zeit. Vieles hat sich aufgestaut: Reste der Corona-Panik aus Wochen und Monaten der Quarantäne, Belastungen und Depression; deutliche Einschränkungen im täglichen Leben, die gerade jetzt, in Zeiten der Lockerung, auf paradoxe Weise spürbar werden; das Wissen über gesunkene Lebenschancen, das besonders bei Jugendlichen täglich weiter ins Bewusstsein tröpfelt; Bilder der Demonstrationen in den USA und der Polizeigewalt, die sie begleiten.

Nichts davon entschuldigt auch nur im Mindesten, was sich in der Nacht von Samstag auf Sonntag in Stuttgart zugetragen hat. Weder Angriffe und Plünderungen noch die Gewalt gegen Polizisten, denen nichts zur Last zu legen ist. Und doch ist all das die Kulisse, die nun berücksichtigen muss, wer nach den Gründen für die Ausschreitungen sucht. Besonders, weil es keine greifbaren Motive gibt – jedenfalls, so der Stand Montagabend, keine politischen. Was passiert ist, muss nun gründlich aufgearbeitet werden. Dies vor allem deshalb, weil Gewalttaten, für die es keine Erklärung gibt, die dem Augenschein nach schlicht aus Lust an Aufregung geschehen, in besonderer Weise drohen, die Stimmung weiter zu verschärfen – auf allen Seiten.

Bei schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei haben Gewalttäter in der Nacht auf Sonntag die Stuttgarter Innenstadt verwüstet.
Foto: imago/Arnulf Hettrich

Eine tiefgreifende Analyse wird auch deshalb nötig sein, weil die Eckpunkte dessen, was zu der Randale doch bekannt ist, zu schnellen Schlüssen verleitet. Jugendliche, die sich abends in Parks treffen, festgenommene Randalierer, von denen die Hälfte keinen deutschen Pass hat. Auch wenn es, um das so deutlich wie möglich zu sagen, keinerlei Anzeichen dafür gibt, dass Herkunft etwas mit der Ursache der Gewalt zu tun hat: Das ist auch für die AfD eine perfekte Mischung und ein Angriffspunkt für die Partei, mit der sie jüngst verlorenen Boden wiedergutmachen kann.

Härte des Rechtsstaates

Die Randale erweist zudem einer wichtigen Angelegenheit einen Bärendienst. Wochenlang haben auch in Europa Hunderttausende gegen rassistische Polizeigewalt in den USA demonstriert, und zu Recht darauf hingewiesen, dass es auch in Europa Probleme und Reformbedarf gibt – zuallermeist friedlich. Wenn junge Menschen nun, womöglich weil sie sich in sozialen Medien inszenieren wollen, mit "Fuck the Police"-Gestus durch die Straßen ziehen und dabei Gewalt gegen Menschen verüben – dann fügen sie diesen Bemühungen den größtmöglichen Schaden zu.

Die Gewalt sollte alle zum Nachdenken bringen. Es muss deutlich gemacht werden, dass völlig berechtigte Kritik an der Gewalt seitens der US-Polizei nicht als Freibrief für Randale und Angriffe in Deutschland oder anderswo missverstanden werden darf.

Aber auch für die Politik ist es ein Weckruf. Die deutsche Regierung reagiert mit Bestürzung, Politiker von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier abwärts mit Aufrufen, die Härte des Rechtsstaates nun auszunutzen. Das ist eine verständliche Reaktion, eine hinreichende ist es aber nicht. Die Politik hat in den letzten Wochen und Monaten viel richtig gemacht und harte Maßnahmen ergriffen. Sie hat damit trotzdem Potenzial für Frust geschaffen. Wie viel, das wird in nächster Zeit noch sichtbar werden, spätestens dann, wenn sich die Folgen endgültig in der Realwirtschaft niederschlagen.

Nun braucht es Perspektiven. Wenn schon die Wirtschaft lahmt, sind Freizeitmöglichkeiten, die über den Park hinausgehen, ein erster Schritt. Bleibt der Eindruck von Chancenlosigkeit, wird Stuttgart nicht der letzte Ort sein, an dem viele Fragen offenbleiben. (Manuel Escher, 22.6.2020)