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Foto: REUTERS/Michael Dalder

Die Nacht auf Dienstag hat Markus Braun im Gefängnis verbracht, tags darauf kam der ehemalige Wirecard-Vorstandschef gegen Kaution wieder frei. Gegen Zahlung von fünf Millionen Euro Kaution und wöchentliche Meldepflicht bei der Polizei hat das Amtsgericht München den Haftbefehl außer Vollzug gesetzt, wie die Münchner Staatsanwaltschaft mitteilte. Wie am Dienstag bekannt wurde, habe sich der Österreicher mit Wohnsitz in Wien am Montagabend freiwillig in München gestellt.

Damit hat der milliardenschwere Skandal um Wirecard einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Staatsanwaltschaft legt Braun zur Last, allein oder mit weiteren Tätern die Bilanzsumme und den Umsatz durch vorgetäuschte Einnahmen aufgebläht zu haben. Die Agentur Reuters hat Brauns Anwalt für einen Kommentar zunächst nicht erreicht, Wirecard lehnte eine Stellungnahme ab.

Geld fehlt

Der in den vergangenen Jahren stark gewachsene Zahlungsdienstleister hat Anfang der Woche eingeräumt, dass ein bilanziertes Vermögen von 1,9 Milliarden Euro auf Treuhandkonten in Asien aller Wahrscheinlichkeit nach gar nicht existiert. Braun trat zurück, der für das Asiengeschäft zuständige Vorstand Jan Marsalek wurde fristlos entlassen. Laut Ermittlungsbehörde sei es möglich, dass auch Marsalek per Haftbefehl gesucht wird: "Das kann ich weder bestätigen noch dementieren", sagte eine Sprecherin.

Berichte und Spekulationen darüber, dass bei Wirecard Bilanzen manipuliert worden seien, gab es immer wieder. Doch konkrete Anhaltspunkte für Straftaten fanden die Staatsanwälte bislang nicht. Ein Wendepunkt war nach Angaben von Beteiligten erreicht, als Wirecard unter dem neuen Chef James Freis am Wochenende die Staatsanwaltschaft und die Öffentlichkeit über die fehlenden Milliarden informierte. Vonseiten der deutschen Regierung räumte man Fehler bei der Beaufsichtigung von Wirecard ein.

Der deutsche Vize-Kanzler Olaf Scholz stellte entsprechend schärfere Regeln in Aussicht, um komplexe Unternehmensgeflechte künftig besser beaufsichtigen zu können. Wirtschaftsminister Peter Altmair (CDU) äußerte die Sorge, dass der Fall Wirecard einen nachhaltigen Imageschaden für den Wirtschaftsstandort Deutschland bedeuten könnte. Auch die deutsche Aufsichtsräte-Vereinigung sprach sich dafür aus, einen Verhaltenskodex für Aufsichtsräte zu entwickeln. Die jetzigen Regeln für eine gute Unternehmensführung seien offensichtlich unzureichend.

BaFin erweitert Strafanzeige gegen Wirecard

Die deutsche Finanzaufsicht BaFin legt bei ihrer Strafanzeige ebenfalls nach. "Wir haben heute eine Nachtrags-Anzeige bei der Staatsanwaltschaft München I wegen des Verdachts der Marktmanipulation erstattet", sagte eine BaFin-Sprecherin am Dienstagabend.

Durch die Ad-hoc-Mitteilung vom Montag, in der der Zahlungsdienstleister Wirecard einräumte, dass die verschwundenen 1,9 Milliarden Euro mit "überwiegender Wahrscheinlichkeit" gar nicht existent seien, habe sich der Verdacht der Marktmanipulation erhärtet. Die Behörde hatte bereits Anfang Juni Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft München I gegen den gesamten damaligen Wirecard-Vorstand um Ex-Firmenchef Markus Braun erstattet. Damals ging es zunächst nur um mutmaßlich irreführende Aussagen in zwei Pflicht-Mitteilungen

Vertrauen dahin

Das Vertrauen der Anleger in Wirecard, das Braun vom Zahlungsanbieter auf Glücksspiel- und Porno-Webseiten zum globalen Finanzdienstleistungskonzern ausgebaut hat, ist jedenfalls stark angeknackst. Die Aktie des Konzerns, der 2018 die Commerzbank aus dem Dax verdrängt hat, hat seit Donnerstag mehr als 80 Prozent ihres Wertes eingebüßt. Der freie Fall nahm bereits vergangene Woche seinen Lauf, als Wirecard die Veröffentlichung der Konzernergebnisse verschob. Im Sommer 2018 war der Zahlungsabwickler an der Börse mehr als 24 Milliarden Euro wert – die bisher höchste Bewertung des Unternehmens, in das der in Österreich auch politisch gut vernetzte Braun 2002 eintrat.

Die Krise des Zahlungsabwicklers ist existenziell. Im Hintergrund sondieren Insidern zufolge Gläubigerbanken die finanzielle Situation von Wirecard. Ende des Monats müssten die Gehälter für die rund 5500 Mitarbeiter des Konzerns gezahlt werden, und man versuche schnellstmöglich, eine Entscheidung zu treffen. Eine Verlängerung werde es – wenn überhaupt – nur unter sehr harten Bedingungen geben, sagte eine mit der Sache vertraute Person. Wirecard hatte am Montag erklärt, man sei in konstruktiven Gesprächen mit den Gläubigerbanken. (Aloysius Widmann, 23.6.2020)