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"Iron Mike" Tyson (links) wurde disqualifiziert und gesperrt, nachdem er am 28. Juni 1997 seinem Gegner Evander "The Real Deal" Holyfield im Ring ein Stück des Ohres abgebissen hatte. Am Wiener Straflandesgericht dreht sich ein Prozess um das gleiche Delikt.

Foto: AP Photo/Jack Smith

Wien – "Zeigen Sie mir einmal Ihr Ohr" ist eine Aufforderung, die man von Richtern eher nicht erwartet. Doch Gerald Wagner will im Verhandlungssaal des Wiener Straflandesgericht vom 20-jährigen Zeugen Nicolai D. (Name geändert, Anm.) genau das. Denn Wagner muss über den 24 Jahre alten Philipp W. urteilen, der zugibt, D. ein Stück des Hörorgans abgebissen zu haben.

Sportinteressierten drängt sich die Assoziation zum Box-Weltmeisterschaftskampf zwischen Michael Gerard "Iron Mike" Tyson und Evander "The Real Deal" Holyfield im Jahr 1997 auf, der abgebrochen wurde, nachdem Tyson seinem Kontrahenten auf ebendiese Art verletzt hatte. Richter Wagner hat es aber nicht mit Schwergewichtlern zu tun: Der unbescholtene W. ist ein Angestellter, D. ist Zahntechniker und, wie man in Oberösterreich sagen würde, jetzt auch nicht unbedingt ein Bär.

Keine Papers

Zusammengetroffen ist man noch in der Vor-Corona-Zeit bei einem Studentenfest auf der Technischen Universität Wien. "Ich war schon beim Jacken-Abholen, da hat mich einer gefragt, ob ich Papers habe", erinnert sich der Angeklagte, der sich grundsätzlich des Bisses schuldig bekennt. Mit der wichtigen Zutat für selbstfabrizierte Rauchware konnte er nicht dienen, es entstand aber ein Gespräch.

"Dann hat irgendwer aus seiner Gruppe 'Schwuchtel!' zu mir geschrien. Ich hatte damals blondierte Haare", erläutert W. dem Richter. Als ihn dann noch jemand als "Hannah Montana!" (eine von Miley Cyrus einst unter Heranwachsenden populäre Fernsehfigur) bezeichnete, reichte es ihm. "Ich habe zu meinem Freund gesagt, dass wir gehen sollen." Nicht nur das, es folgte auch das Werturteil: "So san s', die Hurenkinder." Was wiederum D., Teil der Gruppe, laut Darstellung des Angeklagten nicht goutiert hat, es kam zur körperlichen Auseinandersetzung.

Richter sattelfest in Umgangssprache

W. schildert, er sei in den Schwitzkasten genommen und mit Faustschlägen gegen die Schläfe traktiert worden. "Er hat mein Gnack beansprucht", drückt der Angeklagte es aus. "Was meinen Sie damit?", will Wagner wissen. "Mein Genick beansprucht", bemüht sich der Angeklagte. "Gnack habe ich schon verstanden, was Sie mit 'beansprucht' meinen", demonstriert der Richter Sattelfestigkeit in österreichischer Umgangssprache. "Er hat fest dagegen gedrückt", klärt W. auf.

Er habe sich vor allem gegen die Schläge nicht zu helfen gewusst, den Gegner aber zweimal vorgewarnt, beteuert der Angeklagte. "Hör auf, oder ich beiß dich ins Ohr!", will er gerufen haben, ehe er das Vorhaben in die Tat umsetzte. Das auch für ihn körperlich nicht folgenlos blieb: "Ich habe mir an seinem Flinserl ein Stück Zahn abgebrochen", sagt er.

Notwehr keine Verteidigungsstrategie

Auf Notwehr plädiert er aber auf Anraten seines Verteidigers Andreas Schweitzer nicht. Es tue ihm ehrlich leid, was passiert sei, sagt er. Und er ist auch bereit, dem Verletzten Schmerzensgeld zu bezahlen. "Wenn ich es mir leisten kann", schränkt er ein.

D. erzählt den Ablauf bis zum Biss ein wenig anders. Es habe zwar eine Diskussion gegeben, dann sei aber alles sehr schnell gegangen: "Er ist mich von hinten angesprungen und hat mich ins Ohr gebissen!", behauptet der Zeuge. Trotz Wagners Vorhalt, mehrere Zeugen beider Seiten sagen, der Vorfall sei geschehen, als beide schon auf dem Boden gelegen sind, bleibt D. dabei, dass er gestanden sei.

"Warum soll W. das grundlos machen?", will der Richter wissen. "Vielleicht war er angesoffen, ich weiß es nicht", lautet die Antwort. "Wissen Sie noch, wann der Vorfall war?", fragt Wagner weiter. "Nach eins oder zwei." – "Das war auf einem Studentenfest. Haben Sie vorher auch was getrunken?" – "Ein bissl." – "Wie viel?" – "Drei große Becher Orangensaft. Mit Wodka." – "Selbstgemischt? Waren Sie betrunken?" – "Ein bissi."

Diversion und 1.000 Euro Schmerzensgeld

D. sagt, er habe zwei Wochen nicht arbeiten können, sein Anwalt habe ihm geraten, 5.000 Euro Schmerzensgeld zu fordern. Das erscheint Wagner nach der Ohreninspektion, die keine bleibende Entstellung zeigt, da D. operiert werden konnte, doch zu hoch. Das Opfer akzeptiert schließlich, dass W. ihm innerhalb von sechs Monaten 1.000 Euro Entschädigung in Raten überweist. Das ist die einzige Bedingung für eine nicht rechtskräftige Diversion, die W. erfüllen muss. Womit er deutlich besser aussteigt als Mike Tyson: Der musste damals drei Millionen US-Dollar Strafe zahlen, und seine Boxlizenz wurde für über ein Jahr widerrufen. (Michael Möseneder, 24.6.2020)