Der Verkehrsknotenpunkt Praterstern spielte im Leben der angeklagten Nathalie S. in den vergangenen Monaten eine wesentliche Rolle.

Foto: Heribert Corn

Wien – "Irgendwas ist mit Ihnen passiert in den vergangenen Monaten", fasst Richterin Nicole Baczak am Ende des Prozesses gegen Nathalie S. (Name geändert, Anm.) zusammen. Bis Februar hat die 34-Jährige ein strafrechtlich unauffälliges Leben geführt. Doch dann wurde sie innerhalb von zweieinhalb Wochen zweimal ein Fall für die Polizei. Am 14. März soll sie versucht haben, eine Beamtin zweimal zu treten. Und das, obwohl die Exekutive ihr eigentlich zur Hilfe geeilt war.

Baczak ist auf die Angeklagte nicht besonders gut zu sprechen. Einerseits, da S. zum ersten Verhandlungstermin am 2. Juni ohne Entschuldigung nicht erschienen ist. Nun ist sie hier, da sie von der Exekutive gegen 4.30 Uhr abgeholt und nach einem Zwischenstopp in der Polizeiinspektion ins Gericht eskortiert wurde. Andererseits, da sie zwar am 2. Juni nicht kam, aber drei Tage später, als ihr Partner wegen Körperverletzung an ihr vor Gericht stand, sehr wohl erschien – und der Mann wegen ihrer Aussage freigesprochen wurde.

Deutsche ohne Titelsucht

"Das habe ich auch als Unhöflichkeit empfunden", sagt Baczak der Angeklagten, die bei der Überprüfung ihrer Generalien mit einer Überraschung aufwarten kann: Sie ist Magistra der Psychologie. "Das haben Sie aber bei der Polizei nicht gesagt", stellt die Richterin fest. "Ich habe es nicht so raushängen lassen", erklärt die Deutsche dazu. "Titel sind in Österreich aber nicht unwichtig", kommentiert die Staatsanwältin lächelnd.

Weniger amüsant ist das Verhalten der Angeklagten seit 26. Februar. Damals wurde sie bei einem Diebstahlversuch in einem Supermarkt am Wiener Praterstern erwischt. "Ich hatte kein Geld und habe die Sachen gebraucht. Ich bin ja keine Kleptomanin, die stehlen nur Dinge, die sie nicht brauchen." – "Bei der Polizei haben Sie aber genau das gesagt, dass Sie Kleptomanin sind", hält Baczak S. vor. Die Beinahe-Beute lässt auf sehr spezifische Bedürfnisse schließen: Die Angeklagte hatte mehrere Sorten Schaumbäder sowie dosenweise Ottakringer und Wieselburger eingepackt.

Die Staatsanwaltschaft erledigte die Angelegenheit diversionell, rechtlich gesehen ist S. also noch unbescholten. Dafür hat sie ein Alkoholproblem, wie sie eingesteht. Und eine problematische Beziehung mit Herrn H., den sie ebenso am Praterstern kennengelernt hat. "Ist das Ihr Lebensgefährte?", erkundigt sich Baczak. "Nein, das sind mehr körperliche Episoden", erfährt die Richterin.

Nachbarn alarmierten Polizei

In der Nacht des 14. März kam es in der Wohnung der Angeklagten jedenfalls zu einer Auseinandersetzung. Die so gewalttätig gewesen sein muss, dass Nachbarn wegen der Hilferufe von S. die Polizei riefen. Funkwagen Ulrich 5 kam und traf, so schildert es eine Beamtin, auf eine "sehr unordentliche Wohnung, wo ein betrunkener Mann und eine betrunkene Frau waren, beide hatten Würgemale und Kratzer".

Um die Situation zu klären, wurde das Paar in verschiedene Räume der Wohnung gebracht, S. sei aber äußerst unkooperativ und aggressiv gewesen. Die ebenfalls alarmierte Rettung schickte sie weg, ein Alkomattest ergab bei S. einen Wert von 2,5 Promille. "Geht's olle scheißen, eich braucht eh kana, ihr Hurenkinder", soll die Angeklagte den Polizisten beschieden haben. "Das ist nicht in meinem Vokabular", zeigt sich die Angeklagte im Gerichtssaal zunächst indigniert. "Na gut, vielleicht habe ich es von Herrn H. übernommen. Der ist Bauarbeiter", konzediert sie schließlich doch.

Vermutete Vorurteile gegen "Piefke"

Im März wurden jedenfalls beide festgenommen, S. war damit nicht einverstanden und versuchte bei zwei Gelegenheiten auf eine Polizistin hinzutreten. "Ich werde von der Polizei vergewaltigt, warum macht niemand was!", soll sie auch gebrüllt haben. Die Arbeitslose mag das nicht glauben. "Viele Beamte dichten was dazu, sobald man Piefke ist", beweist S. Kenntnis über österreichische Bezeichnungen für unsere deutschen Nachbarn. Die Polizisten bleiben aber dabei, dass S. das gerufen habe. Sie können sich deshalb so gut erinnern, da für S. ohnehin zwei Beamtinnen zuständig waren.

"Wie soll es mit Ihnen weitergehen? Sie stürzen ja gerade ab", sorgt sich die Richterin. S. widerspricht: "Ich versuche mich gerade aufzurappeln." Aber eine "ungute familiäre Situation" mit ihrer Mutter belaste sie. Eine Alkoholenzugstherapie habe sie bereits probiert, aber abgebrochen. "Ich würde ja vom Alkohol weg, wenn ich einen Job hätte. Aber was soll ich denn machen, wenn ich den ganzen Tag daheim bin", kann sie sich den Alltag von Hausmännern oder -frauen offenbar nicht vorstellen.

Wenig Freude mit letzter Chance

Baczak will Frau S. noch eine Chance geben und verurteilt sie zu drei Monaten bedingt, zusätzlich erteilt sie ihr die Weisung, eine ambulante Entzugstherapie zu absolvieren und Bewährunggshilfe in Anspruch zu nehmen. "Die drei Monate scheinen im Strafregisterauszug nicht auf, wenn Sie sich wo bewerben, können Sie also sagen, dass Sie unbescholten sind", belehrt die Richterin die Angeklagte. Die ohne Verteidigerin erschienene S. scheint dennoch nicht zufrieden und erbittet sich drei Tage Bedenkzeit, womit das Urteil nicht rechtskräftig ist. (Michael Möseneder, 5.7.2020)