Foto: Heyne

Hier scheint mir vorab ein Hinweis angebracht: Dieser Roman steht nicht für sich allein, sondern in einem Kontext sowohl früherer als auch noch folgender Bücher. Kenntnis der früheren ist nicht notwendig, da besagter Kontext – die "Multiversum"-Reihe – ein bisschen speziell ist. "Artefakt" eignet sich damit so gut als Ausgangspunkt wie jeder seiner drei Vorgänger, die um die Jahrtausendwende erschienen sind. Am Ende sieht man allerdings betroffen den Vorhang wenigstens zur Hälfte offen: Da muss ein Sequel her! Im Original wird dieses übrigens bereits im August erscheinen ("World Engines – Creator"), also keine Panik.

Ein neues Uni- im Multiversum

Beginnen wir mal bei Null: Im Mittelpunkt der Handlung steht ein Astronautenehepaar, das wahrlich vom Unglück verfolgt ist. Emma Stoney leitet eine Expedition zum Marsmond Phobos und verschwindet dort spurlos. 15 Jahre später bringt ihr Ehemann Reid Malefant mit einem Transporter ein Spaceshuttle in den Orbit, stürzt wegen eines technischen Gebrechens ab und erleidet dabei so schwere Verletzungen, dass er in Kälteschlaf versetzt werden muss. Aus dem wird er erst im 25. Jahrhundert wieder geweckt – und zwar aus besonderem Anlass: Emma, die eigentlich seit Jahrhunderten tot sein müsste, hat ihm nämlich von Phobos aus eine Botschaft geschickt ...

Das klingt schon mal ansprechend, und im Detail sieht das Ganze noch etwas spezieller aus: Emmas Phobos-Flug fand im Jahr 2004 statt, wir befinden uns also in einer alternativen Realität. Einer, in der Richard Nixon als Wohltäter in die Geschichte eingegangen und Neil Armstrong auf dem Mond einem Herzinfarkt erlegen ist. Und trotz dieses Unglücks – oder sogar deswegen – wurde das Apolloprogramm viel weiter vorangetrieben als in unserem Geschichtsverlauf. "Artefakt" ist damit das spätgeborene vierte Geschwisterchen der drei "Multiversum"-Romane, die Baxter vor 20 Jahren schrieb. Jeder der vier handelt in einem anderen Paralleluniversum, weshalb man die Bücher auch unabhängig voneinander lesen kann. In jedem allerdings spielt ein Reid Malenfant – und zu einem geringeren Grad auch eine Emma Stoney – die Hauptrolle.

Guten Morgen in der neuen Welt

Beim ersten Drittel von "Artefakt" haben wir es mit einem klassischen "Der Schläfer erwacht"-Szenario zu tun. Die Welt des Jahres 2469 könnte man gut und gerne als Utopia bezeichnen – auch wenn dieses erst durch ein Fegefeuer gehen musste. Der Klimawandel aus der Ära von Peak Carbon hat zur Überflutung sämtlicher Küstengebiete geführt, die Weltbevölkerung ist auf ein für den Planeten verträgliches Maß geschrumpft. Die neue Kultur des Gemeinsamen Erbes ist friedlich und weitgehend egalitär. Sie nutzt zwar trotz ihrer dörflichen Anmutung weiterhin Hochtechnologie – allerdings solche ohne geplante Obsoleszenz. Alles wird so gebaut, dass es über Generationen weitergereicht werden kann.

Wie in einer Utopie aus dem 19. Jahrhundert arbeitet man hier nur ehrenamtlich, hat alles, was man zum Leben braucht, kennt kaum Zwänge – und schlendert in weißen Gewändern herum. Vieles erinnert einen also an Zukunftsvisionen von H. G. Wells oder William Morris, aber es gibt auch Besonderheiten. Zum Beispiel eine Kodex genannte besondere Form der Erinnerungskultur, vor allem aber eine doppelte Datumsanzeige: Denn es ist nicht nur das Jahr 2469, sondern auch das Jahr minus 928 ... so lange dauert es nur mehr, bis der Zerstörer kommen wird. Es ist eine Utopie mit Ablaufdatum – außer dem stets umtriebigen Reid Malenfant fällt noch etwas dagegen ein.

Zumindest so viel kann man verraten: Nach dem insgesamt doch recht beschaulichen Rundgang durch die schöne neue Welt kommt mit dem Wechsel in den Weltraum etwas Leben in die Bude. Unter anderem werden wir ein schwebendes Garten-Habitat besuchen, ins Innere von Phobos hinabsteigen, und irgendwann fällt schließlich auch ein so großspuriger Satz, wie man ihn sich von einem Stephen-Baxter-Roman erwartet: "So, Ladies und Gentlemen, bewegt man einen Planeten."

Die Dynamik hält sich in Grenzen

Insgesamt ist "Artefakt" sicher nicht Baxters rasantester Roman. Das liegt am Genre-Mix: Die Utopie ist generell ein recht statisches Genre, und Baxter befolgt dessen Muster im ersten Teil weitgehend 1:1, vom Culture-Clash bis zur Assistenz durch einen gutmütigen Fremdenführer. Davon bekommt Malenfant gleich zwei zur Seite gestellt: die junge Frau Greggson Deirdra (die man im Auge behalten sollte, sie wird sich noch ganz schön mausern) und den Androiden Bartholomew. Dessen Funktion besteht vor allem darin, sich mit Malenfant über den gesamten Roman hinweg Wortgeplänkel zu liefern und damit für etwas Unterhaltung zu sorgen.

Genre 2, die Alternativweltgeschichte, böte mehr erzählerischen Freiraum. Allerdings hat Baxter in der Vergangenheit (z.B. im Erzählband "Obelisk") gezeigt, dass er dazu neigt, seine Figuren beisammenhocken und ausführlich darüber philosophieren zu lassen, an welchem Punkt sich ihre Geschichtsverläufe getrennt haben und wie alles auch ganz anders kommen hätte können. Da werden also gleich zwei Elemente mit wenig Dynamik miteinander verbunden.

Unruhefaktor Malenfant

Dass aus der Ruhe nicht Fadesse wird, dafür sorgt in erster Linie die Hauptfigur. Reid Malenfant hat schon in der Vergangenheit die Meinungen der Leser gespalten – die einen lieben ihn, die anderen finden ihn nervtötend (ich bin ein Fan). Er ist neugierig und kritisch, allerdings auch ungeduldig und mitunter brüsk. Er ist ein Macher und Katalysator von Ereignissen, der andere mit seinem Charisma unwillkürlich mitreißt. In der "Proxima"-Duologie hätte man ihn wohl als typischen Vertreter der berüchtigten "Heldengeneration" bezeichnet.

Zugleich zieht er aber sofort ein beleidigtes Schnoferl, wenn ihm mal jemand die Show stiehlt; was ihn in meinen Augen freilich nur menschlicher macht. "Sie fügen sich nicht ein. Sie bestehen nur aus Ecken und Kanten", wird Malenfant an einer Stelle attestiert. Baxter zückt also im Grunde die altvertraute Karte vom lebendigen Jetztmenschen, der die edlen, aber ein bisschen unbedarften Zukunftsmenschen ein Stück weit aufmischt – zu ihrem Besten und zur Freude von uns, die sich in Malenfant wiedererkennen dürfen.

Die Frage aller Fragen

Und wenn wir schon beim Stichwort sind: Menschlich betrachtet wäre das Ende von "Artefakt" total unbefriedigend, wenn man nicht wüsste, dass es schon bald in einem Folgeband weitergehen wird. Der hat aber nicht nur das weitere Schicksal der Hauptfiguren zu erzählen, er ist uns noch etwas anderes schuldig. Denn die bisherigen "Multiversum"-Romane drehten sich nicht zuletzt darum, Erklärungen für das Fermi-Paradoxon zu finden, also für die Frage, warum wir noch nicht auf Spuren außerirdischer Intelligenz gestoßen sind. Ganz am Anfang von "Artefakt" – man hat es am Schluss fast schon wieder vergessen – orakelt Malenfant in der Rückschau auf die kommenden Ereignisse: Mir wurde klar, dass uns das Fermi-Paradoxon etwas Grundlegendes über das Universum und unseren Platz darin sagt. Oder sagte. Jetzt ist natürlich alles ganz anders. – Also: Wir harren Ihrer Erklärung, Mr. Baxter!