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Ob Burt Bacharach, Richard Carpenter oder die Männer von ABBA: Es gab in der Geschichte der Popmusik einige Komponisten und Arrangeure, die eine ganz besondere Gabe hatten. Sie schrieben supereingängige Songs, die so einfach wirken, dass viele sie für Leichtgewichte halten. Ein Irrtum, denn ein genauerer Blick offenbart, wie raffiniert ausgetüftelt diese Werke bis ins letzte Detail sind. Die gleiche Konstruktionsgabe zeigt der britische Autor John Marrs in seinen Romanen. Es ist pure Unterhaltungsliteratur – aber at its best.

Achtmal auf Autopilot in den Tod

Die Prämisse von "The Passengers": Acht Menschen steigen in ihre selbstfahrenden Autos ein ... und finden sich plötzlich als Gefangene wieder. Über den Bordlautsprecher meldet sich ein Hacker, der ihnen erklärt, dass er die Kontrolle über ihre Fahrzeuge übernommen und sie auf Kollisionskurs gebracht hat – und dass das ganze Land ihre Todesfahrt live im Internet mitverfolgen kann. Jeder Versuch, eines der Autos zu stoppen, wird bestraft werden. Und um zu verdeutlichen, dass das keine leere Drohung ist, lässt er schon bald eines der Autos samt Insasse explodieren und droht, dasselbe mit ein paar Schulgebäuden zu machen. Nur einer der Passagiere dürfe am Ende überleben.

Zwei der Opfer seien zufällig in die Sache geraten, erklärt der Hacker – sechs habe er gezielt ausgewählt. Und wie sich mit der Zeit zeigen wird, hüten sie alle ein finsteres Geheimnis: Sei es die hochschwangere Claire, der depressiv wirkende Jude, das kriselnde Ehepaar Heidi und Sam (jeder in seinem eigenen Wagen) oder die Immigrantin Shabana, die vor ihrem gewalttätigen Ehemann flieht. Dass jeder anfangs noch ganz unbescholten wirkende Protagonist eine Leiche im Keller (oder im Kofferraum) hat, damit bringt Marrs ein erzählerisches Element ein, das wir von einer Altmeisterin der Krimi-Konstruktion bestens kennen: Mit all seinen Twists liest sich "The Passengers", als hätte Agatha Christie das Drehbuch von "Speed" geschrieben.

Auch die alternde Schauspielerin Sofia, das einzige prominente Entführungsopfer, hat einen sehr dunklen Fleck auf ihrer Vita. Nebenher sorgt sie aber auch noch für ein bisschen Humor – ist sie doch davon überzeugt, sich in einer schrecklich vulgären neuen Reality-Show zu befinden. Und naja, ganz unrecht hat sie damit ja nicht. Immerhin wird das Geschehen in den Fahrerkabinen live in sämtliche Haushalte übertragen. Auch den acht Ausgewählten werden Streams ihrer Leidensgenossen eingespielt – am Display läuft damit eine zynische Variante jener Telekonferenzen ab, in denen wir alle seit Monaten hocken.

Die Sache mit der Auswahl

Gleichsam erste Reihe fußfrei muss die Hauptfigur des Romans das Drama mitverfolgen: Libby Dixon ist eine Psychiatriekrankenschwester und sitzt aktuell in einer Untersuchungskommission des Verkehrsministeriums. Großbritannien hat den Umstieg auf selbstfahrende Autos so vehement durchgedrückt wie seinerzeit den Ausbau der Überwachungstechnologie. Sie gelten als sicher – und doch kommt es immer wieder mal zu tödlichen Unfällen. Diese zu evaluieren ist die Aufgabe von Kommissionen, die sich aus lauter Experten plus einem zwangsrekrutierten Vertreter des Volkes – in diesem Fall Libby – zusammensetzen. Die Einbindung von Laien soll ein Zeichen für Transparenz sein; doch Libby merkt rasch, dass sie in der Expertenrunde nichts zu melden hat. Oder zumindest nicht haben soll, die aktuellen Ereignisse werfen das hierarchische Gefälle nämlich bald über den Haufen.

Das Motiv der Auswahl – erst der Opfer, nun der Gutachterin – taucht damit bereits zum zweiten Mal auf. Und das ist kein Zufall, sondern ein weiteres Indiz für Marrs' Vorgangsweise als Plot-Konstrukteur. Denn dasselbe Motiv ist auch der Kern des technologisch-gesellschaflichen Hintergrunds des Romans, das Dilemma der "Moral Machine". Welche Prioritäten soll man einer Maschine für Unfallsituationen einprogrammieren, in denen Todesopfer unvermeidbar sind? Welchem Leben soll der Vorzug gegeben werden: Dem Fahrer oder einem Passanten, einem alten Menschen oder einem Kind, einer Mutter oder einem Migranten?

Wenn Social Media ihr hässliches Haupt erheben

Und noch auf eine vierte, besonders zynische Weise werden Auswahlverfahren thematisiert: Das Todesrennen wird in sämtliche soziale Netzwerke übertragen, und rasch poppen dort Rankings auf, wer es am meisten verdient hätte, zu überleben, und wer zur Hölle fahren darf. Christoph Schlingensiefs Container-Aktion "Ausländer raus!" und das Geiseldrama von Gladbeck verschmelzen hier zu einem Panorama gehässiger Selbstgerechtigkeit, von dem sich nicht nur Libby mit Grausen abwendet.

An einer Stelle lässt Marrs, der offenbar eine angemessen niedrige Meinung von Social Media hat, Libby von einem Experten erklären, was sie aus diesen Pestgruben zu erwarten hat: "Jeder User hat eine Meinung. Auch wenn Sie höchstpersönlich zu jeder dieser Schulen fahren, jeden Sprengsatz eigenhändig entschärfen und dann im Alleingang sämtlichen Passagieren das Leben retten, wird irgendein Troll mit fettigen Haaren und Tattoos mit Rechtschreibfehlern, der in einer Sozialwohnung in Hackney sitzt, Sie beschimpfen, weil Sie dabei einen Rock getragen und dadurch die Emanzipation der Frauen um Jahrzehnte zurückgeworfen haben."

Ein böses Vergnügen

Wie eingangs gesagt, steckt hier eine Menge drin, ist aber so supergeschmeidig verpackt, dass das Ergebnis geradezu simpel wirkt. Was übrigens auch für die physische Form des Romans gilt: Mit seinem schlichten anthrazitfarbenen Cover und den blauen Seitenrändern hat "The Passengers", ganz zum Thema passend, ein elegantes Chassis.

Als kleines Zuckerl für seine Fans hat Marrs übrigens auch ein paar Verweise auf seinen früheren Roman "The One. Finde dein perfektes Match" eingestreut, der mich seinerzeit auf den Autor aufmerksam gemacht hat. Denn obwohl "The One" eine für g'standene SF-Fans recht nebbiche Prämisse hatte (eine Dating-App!), entpuppte es sich doch als ausgesprochen vergnügliche Lektüre. Und "The Passengers" hat das noch einmal getoppt. Es dürfte sich also lohnen, sich weiter durchs bisherige Werk des Autors zu lesen. Einziger Wermutstropfen: Die übrigen Titel fallen eher ins Krimi-Genre, sind also leider kein Fall für die Rundschau.