Foto: Braumüller

Stellen wir uns vor, ein unerhörtes sciencefictioneskes Katastrophenereignis sucht die Welt heim, und nicht die üblichen Kapazunder aus Spitzenwissenschaft und Geheimdiensten nehmen die Ermittlungen auf, sondern ... der Bulle von Tölz. Respektive die Man- und Brainpower, die ein verschlafenes kleines Alpenstädtchen aufzubieten hat. Das Ergebnis ist zum Schreien komisch. Da liest sich etwa der genreübliche Expertenaufmarsch diesmal wie folgt: Nach dem Notarzt erschien die Polizei in Gestalt der Beamten Mitterer und Amann und machte einen ganzen Haufen weiterer Feststellungen: dass es sich beim Toten um einen gewissen Peter Hartmann handelte, und dass es sich bei Moser, Strasser, Floriani und Oskar Klein um Moser, Strasser, Floriani und Oskar Klein handelte. – Die Rettung der Welt kann nur noch eine Frage von Stunden sein.

Der Keim des Geschehens

Besagter Oskar Klein ist ein Privatdetektiv und überbringt seinem jüngsten Klienten zu Romanbeginn die Beweise dafür, dass dessen Frau fremdgegangen ist. Der hat aber gerade andere Sorgen: In seinem Garten ist eine seltsam aussehende und noch seltsamer riechende Pflanze gewachsen. Als er sie mit der Motorsäge kappen will, durchtrennt er sich vor den Augen des verdutzten Oskar den Hals. Eine emotionale Überreaktion auf die schlechte Nachricht? Mitnichten, denn nachdem der lokale TV-Sender die Nachricht von dem ungewöhnlichen Todesfall gebracht hat, melden immer mehr Leute, dass auch bei ihnen über Nacht solche Pflanzen gewachsen sind.

Es ist der Beginn einer botanischen Invasion, die sich bald über die gesamte Welt ausbreiten wird wie einst das unverwüstliche Supergras in Ward Moores Satire "Greener Than You Think" ("Es grünt so grün"). In Christian Mährs jüngstem Roman haben wir es hingegen mit baumhohen Schachtelhalmen und Farnen zu tun: Die Flora des Karbonzeitalters startet ein unerklärliches Comeback, komplett mit der dazugehörigen Tierwelt wie Riesenlibellen und Arthropleuren.

Kurzer biografischer Einschub

"Carbon" schlägt damit einen Bogen zu den Anfängen von Mährs Karriere als Schriftsteller in den 80er Jahren – damals schrieb der Österreicher das Hörspiel "Chlorophyll", in dem die USA eine Invasion von Schachtelhalmen erleben. Zunächst war Mähr noch stark dem Genre verhaftet, veröffentlichte seine ersten Romane folgerichtig beim Mutterschiff der deutschsprachigen Science Fiction, dem Heyne-Verlag, und gewann 1992 den Kurd-Laßwitz-Preis.

Im Lauf der folgenden Jahrzehnte wechselte er dann zu Verlagen, die weniger eindeutig positioniert sind. Parallel dazu wurden die Phantastik-Elemente in seinen Romanen Interpretationssache, die Science Fiction ging in Magischen Realismus über oder verschwand auch mal ganz. Sein populärstes Werk dürfte der später auch verfilmte Krimi "Alles Fleisch ist Gras" sein. "Carbon" bringt viele Elemente aus Mährs langem und wechselvollem Schaffen zusammen, sogar sein Faible für vergessene Erfindungen: Die Natronlokomotive aus dem 19. Jahrhundert etwa, der er einmal ein Sachbuch gewidmet hatte, tuckert hier fröhlich durch den Karbondschungel.

"Das ist die Gen-Katastrophe! – "Atomstrahlen! Eindeutig Atomstrahlen"

Aber zurück in jene Vorarlberger Kleinstadt, die das Zentrum des Geschehens von "Carbon" bildet. Die nicht erklärbare Pflanzeninvasion breitet sich unaufhaltsam aus, und die aus ihrem gewohnten Trott gerissenen Protagonisten kommen mit der Veränderung nicht mehr mit: Das wäre, dachte er, genau der richtige Zeitpunkt zum Aufwachen. Es war interessant gewesen bis jetzt, interessanter musste es gar nicht mehr werden. Doch dieser Wunsch bleibt unerfüllt, das Geschehen eskaliert weiter.

Denn allmählich beginnen sich auch die Menschen zu verändern, möglicherweise enthemmt durch pflanzliche Pheromone: Der TV-Journalist Floriani gibt sich ungezügeltem Sex mit der Bürgermeistergattin hin, Oskar verwandelt sich in einen Demagogen und die braven Bürger rotten sich zu einem Mob zusammen, der mit grotesken Parolen wie "Nieder mit dem Carbon" oder "Gegen Carbon und Sozialabbau" durch die Straßen zieht und eine Massenschlägerei auslöst. All das gehörte sich nicht, denkt einer. Dass sich das immer stärker zur Satire mausernde "Carbon" so vergnüglich liest, liegt zum einen an der gnadenlosen Überforderung der Protagonisten – und zum anderen an Mährs launiger Sprache (das Wort "Zebedäus" für "Penis" habe ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gelesen!).

So weit, so gut

Alles bisher Gesagte ist freilich nur die halbe Wahrheit. In einem parallelen Handlungsstrang erleben wir, wie der Kleinverleger Werner Scholz einen Schriftsteller besuchen will, der ein (nicht sehr gutes) Buch über die Geschichte der Alpen geschrieben hat. Im Zug begegnet Scholz zunächst einem "Wurzelsepp", der die ominöse Warnung ausspricht, dass man die Veröffentlichung als "unfreundlichen Akt" betrachten würde, und danach einer verführerischen Frau. Und ehe sich's Scholz versieht, hat man ihm das Manuskript des Buchs geklaut. Also schaltet er seinen alten Freund Oskar Klein ein – und dessen Ermittlungen führen einmal mehr mitten ins Grüne hinein.

Bei Wurzelsepp & Co handelt es sich übrigens um waschechte Zwerge, genauer gesagt um Bewohner einer Raumanomalie, in der alles immer kleiner wird, je weiter man nach innen geht. Trotz dieser originellen "wissenschaftlichen" Erklärung ziehen die Zwerge (die vom Karbon-Comeback genauso verdattert sind wie die Menschen) einen ganzen Rattenschwanz von Märchen- und Sagenmotiven nach sich, der bis zu Göttervater Odin höchstselbst reichen wird. Gleich zweimal dringt hier also eine fremde Welt in die uns vertraute ein. Mährs Roman erinnert damit zum einen an die Werke J. G. Ballards (solange er auf SF-Terrain bleibt) als auch an die von Jonathan Carroll oder Neil Gaiman (wenn's märchenhaft wird).

Gemäß meiner persönlichen "1 + 1 > 1 + 1 + 1"-Maxime ist das eine Komponente zu viel, immerhin ist ja auch noch der humoristische Provinz-Faktor im Spiel. Surreale SF à la Ballard mit dem Personal eines Alpenkrimis zu kreuzen, ergäbe eine so noch nicht gelesene Mischung, die einen Platz in meinem Jahres-Best-of gefunden hätte. Das Mythologische auch noch reinzubringen – da springt dann für meinen Geschmack die Natronlok aus dem Gleis. Vielleicht wäre es besser gewesen, aus "Carbon" zwei Bücher zu machen, mit unterschiedlichem, aber in beiden Fällen klarerem Profil. Alleine für die höchst unterhaltsame erste Hälfte kann ich den Roman aber trotzdem empfehlen. Spaß ist garantiert!