Der Kreml hat aus der Not eine Tugend gemacht: Weil die Covid-19-Epidemie sowohl das Ende April geplante Verfassungsreferendum als auch die traditionelle Siegesparade am 9. Mai unmöglich machte, lässt Präsident Wladimir Putin jetzt beides nachholen. Die Siegesparade als Stimmungsheber zuerst.

Die Ansteckungszahlen sind zwar mit über 7.000 Neuinfektionen pro Tag weiterhin hoch. Zudem gibt es inzwischen auch in Russland 8.500 Tote. Doch der Kremlchef erklärte bereits Mitte Juni, dass Russland dabei sei, die Pandemie "mit minimalen Verlusten" zu überwinden.

Putin holte die wegen des – weiter grassierenden – Virus abgesagte Parade nach und gab den Auftakt zum Verfassungsreferendum.
Foto: EPA / Sergey Pyatakov

Und so stapften am Mittwoch mehr als 13.000 Soldaten bei hochsommerlichen Temperaturen über das Pflaster des Roten Platzes. Einen neuen Rekord stellte die Militärparade im 75. Jahr des Siegs über Hitler-Deutschland bei der Anzahl der aufgebotenen Panzertechnik auf: 234 Fahrzeuge rollten an den Tribünen vorbei, angefangen von den historischen T-34-Panzern aus Weltkriegstagen bis hin zur neuesten Waffentechnik wie den atomar bestückbaren Iskander-Raketen, modernisierten T-90M-Panzern oder den mobilen Küstenschutzbatterien Bal.

Zwei Siege

Masken trugen weder Soldaten noch Zuschauer. Auch nicht die wenigen verbliebenen Weltkriegsveteranen, die allerdings, bevor sie zu Putin auf die Tribüne gelassen wurden, zwei Tage in Quarantäne mussten. Damit sendete die Parade das gewünschte Signal – nicht nur als Erinnerung an den Sieg im Zweiten Weltkrieg, sondern auch als aktueller Sieg und Schlusspunkt der Corona-Krise.

Das Virus hatte zuvor nicht nur Putins Sprecher Dmitri Peskow und Ministerpräsident Michail Mischustin infiziert, sondern auch die Popularitätswerte des russischen Präsidenten selbst. Nur 25 Prozent der Befragten erklärten jüngst, Putin zu vertrauen. Passierscheinsystem, Ausgangssperren und Wirtschaftsschließungen als Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus verstärkten die latente Unzufriedenheit in der Bevölkerung, deren Realeinkommen in den vergangenen sechs Jahren gesunken sind.

Unter diesen Umständen wandte sich Putin im Vorfeld des Referendums noch einmal an die Russen, um dafür zu werben. Die Verfassungsänderung, die es Putin ermöglicht, seine bisherigen Amtszeiten für nichtig zu erklären und 2024 nochmals bei der Wahl anzutreten, ist im Prinzip schon in Kraft. Davon zeugt beispielsweise, dass Putin selbst bei der Verabschiedung von neuen Gesetzen auf die neue Verfassung verweist.

Putin will hohe Zustimmung

Aber der Kremlchef will für eine bessere Legitimation auch eine möglichst hohe Zustimmung beim Referendum erreichen. In seiner neuen Ansprache zur Nation hat sich Putin darum noch einmal als sozialer Garant der Corona-Krisen-geschüttelten Russen präsentiert. Familien versprach er Kindergeld – eine Einmalzahlung von umgerechnet 130 Euro pro Kind im Juni. Im Mai hatte er Familien als Unterstützung in der Corona-Krise schon einmal eine solche Summe zugesagt – allerdings sind noch nicht alle Gelder bei den Betroffenen eingegangen.

Die Wirtschaft soll neue Impulse durch Steuermanöver bekommen. Begünstigt wird hier die IT-Branche, der Putin die Sozial- und Pensionsversicherungsbeiträge fast halbieren will und die künftig Gewinne nur noch mit drei statt 20 Prozent versteuern muss.

Dass Putin gleichzeitig eine moderate Steuererhöhung für Besserverdienende (ab umgerechnet 64.000 Euro Jahreseinkommen) ankündigte, dürfte seine Popularität im Volk nur steigern. Schließlich ist Russland das Land mit dem stärksten sozialen Gefälle in Europa, und 64.000 Euro gelten den meisten Menschen als unerreichbarer Luxus.

Mit dem als erfolgreich zu wertenden Auftritt und seinen sozialen Versprechungen unmittelbar vor der Abstimmung dürfte Putin die Chancen auf ein gutes Resultat beim Verfassungsreferendum zumindest gestärkt haben. (André Ballin aus Moskau, 24.6.2020)