Schauspielerin Julia Gräfner.

Lupi Spuma

Blaue Robe, säuerlicher Blick zum Auftakt in Graz anno 2015: Julia Gräfner in "Volpone" (mit Andri Schenardi, li.).

Lupi Spuma

Nackt und wild durchpflügte Julia Gräfner gleich am Beginn ihrer Zeit in Graz als Naturgewalt Caliban die aufgeschüttete, kühle Inselerde in Shakespeares Sturm. So kreatürlich und krass, dass man angesichts dieses sich windenden und hinschmeißenden Kampfkörpers Gänsehaut bekam und die Brutalität und der Schmerz dieser rätselhaften Figur sich hemmungslos vor einem auftat. Das strähnige Haar klebte chaotisch über ihrer Haut. Was für Schwerstarbeit kann Schauspiel sein!

Auf Anhieb erhielt sie dafür den Nestroy-Preis als beste Nachwuchsschauspielerin. Damit war das Junior-Kapitel für Julia Gräfner aber auch schon wieder beendet. Heute, fünf Jahre später, ist sie eine Galionsfigur des Hauses. Sie verlässt es nun in Richtung München und wird Ensemblemitglied an den künftig von Barbara Mundel geleiteten Kammerspielen. Seufz! Gräfner hätte sicher auch dem Wiener Volkstheater mit auf die Sprünge geholfen.

Dabei ist Julia Gräfner, 1989 in Schwerin geboren, keine ranschmeißerische Spielerin, die um alles buhlt und sich auf Biegen und Brechen verausgabt. Da spricht sie eher von großer "Ruhe", die sie auf der Bühne erreichen will. Das bedeutet für sie, im Spiel einen "Punkt von maximaler Freiheit zu erreichen, an dem das Spielen fast zu einer Meditation wird, weil es daneben im Moment nichts anderes gibt als die totale Konzentration". Dieser ganz besondere Theatermagnetismus (zwingendes Spiel ohne billiges Bezirzen) zeichnet Julia Gräfner aus. So hat sie sich in den fünf Grazer Jahren ein breites Spektrum an unterschiedlich temperierten Charakteren erarbeitet.

Scharfsinnige Domina

Bei ihr gehen Teamspielerin und Rampensau Hand in Hand. Egal ob sie extrovertierte Machofiguren wie den Debuisson in Dantons Tod spielt oder gebeutelte Subjekte wie Shakespeares Julia oder scharfsinnige Dominas wie die Detektivin Hyäne in Vernon Subutex, eine knallige Dorine in Tartuffe oder zuletzt – noch vor dem Lockdown – die puppenhafte Frau Professor in Thomas Bernhards Heldenplatz, die vom anschwellenden Geschrei der Hitlerfans verfolgt, ihren letalen Zusammenbruch erleidet.

Facettenreicher geht es kaum. Und es wäre auch zu langweilig, sich auf einen Typ beschränken zu lassen. Gräfner, die man gewiss eine sogenannte A-Spielerin nennen kann, also eine für Haupt- und Titelrollen Prädestinierte, bleibt ruhig, wenn es auch einmal, wie etwa im Fall von Dorine, eine Nebenrolle wird. Aus dieser Gelassenheit erwächst Stärke und Sicherheit, die fruchtbare Freiräume im Spiel eröffnen. Hinzu kommt ein wacher Intellekt, der Julia Gräfner weit über die Tellerrandgrenzen des eigenen Tuns führt, angetrieben von einem Bewusstsein für gesellschaftspolitische Mitverantwortung.

Ein Gedanke aus dem Lockdown echot in ihrem Kopf bis heute nach: Es ist doch erstaunlich, dass die Weltwirtschaft zusammenbricht, wenn Menschen nur mehr das kaufen, was sie wirklich brauchen. Es zeigt, wie riesig die Chimäre ist, auf die wir unsere Systeme bauen, so Gräfner. Und da schont sie ihre eigene Branche mitnichten: "Wir sehen jetzt, wie viel unnötiges Zeug produziert wird, und ich muss sagen, ich kann da den hochtaktigen Kulturbetrieb nicht gänzlich ausnehmen. Theaterhäuser sehen sich gezwungen, durch Mehrproduktion mehr Publikum anzulocken. Aber ich frage mich, ob diese Rechnung ‚Aus mehr mach mehr‘ überhaupt richtig ist."

Kein spurloser Abgang

Barbara Mundel, designierte Münchner Intendantin, wollte Gräfners kritischen Geist unbedingt am Haus haben. So einem Ruf versagt man sich als 31-jährige Schauspielerin eben nicht. Auch wenn Graz eine sehr produktive Zeit war. Hierher folgte Gräfner nach dem Abschluss ihres Schauspielstudiums 2015 in Bern ihrer "Entdeckerin" Intendantin Iris Laufenberg. Die Hochschule der Künste in Bern, an der "Expanded Theater" unterrichtet wird, war eine ideale Ausbildungsstätte, so Gräfner, weil der Studiengang unterschiedliche Disziplinen des Theaterschaffens vereint und für ein erweitertes Verständnis von Theater eintritt.

Das hat bei Julia Gräfner Mut zum Experiment entfacht, den sie auch außerhalb des Stadttheaterbetriebs in eigenen Projekten (z. B. mit den Rabtaldirndln) ummünzt. "Theater ist Sprechen im öffentlichen Raum. Das begreife ich als eine sehr politische Tat", sagt sie, und sucht diese Verantwortung gezielt. Sie wird Graz nicht spurlos verlassen. Auch deshalb nicht, weil sie im Frühling 2021 als Charles Chaplins Der große Diktator nach Graz wiederkehren wird. Ein besonderer Deal! (Margarete Affenzeller, 25.6.2020)