Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) will das Contact-Tracing beschleunigen.

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Wien – Die Corona-Lage erscheint paradox: Beim Sport und in der Kultur werden in Österreich weitere Lockerungen angekündigt, gleichzeitig warnt mancher Experte – und fürchtet so mancher Laie – eine neuerliche beträchtliche Zunahme an Infektionen, vielleicht sogar schon im Juli. In der Presse wurde etwa der Virologe Christoph Steininger von der Medizinischen Universität Wien zitiert. "Eine zweite Welle" von Covid-19-Erkrankungen sei "ohnehin keine Frage des ob, sondern des wann", sagte er.

Sind die am Dienstag verkündeten Erleichterungen also kontraproduktiv? Sind sie vielleicht sogar gefährlich? Was überhaupt versteht man unter einer zweiten Corona-Welle?

Zweite Welle, wenn Infektionen nicht eingrenzbar sind

Die letzte Frage beantwortet Elisabeth Puchhammer-Stöckl, Virologin an der Med-Uni Wien im Standard-Gespräch: "Eine zweite Welle wäre dann, wenn die Infektionszahlen in einem Land oder in einer Region derart ansteigen, dass man sie nicht mehr eingrenzen kann", sagt sie.

Die von der Regierung beschlossenen Lockerungen wiederum seien zu begrüßen, auch wenn sie "eine Gratwanderung zwischen einem Leben sind, das so normal wie möglich ist und der Notwendigkeit, extrem aufmerksam zu sein". Nachsatz: "Ich bin zur Zeit froh, keine Politikerin zu sein".

Gefahr des Kontrollverlusts in Gütersloh

Eine zweite Welle sei in Österreich und den angrenzenden Staaten derzeit nicht in Sicht, sagt die Virologin: "Mit vielleicht einer Ausnahme: In Gütersloh stoßen die Behörden trotz höchst professionellen Vorgehens mit dem Contact-Tracing an ihre Grenzen". In dem Landkreis im deutschen Nordrhein-Westfalen haben sich 1500 Mitarbeiter des Schlachthofes Tönnies infiziert, bis zum Wochenende soll Klarheit herrschen, ob das Virus in die Bevölkerung übergesprungen ist. Österreich warnt seit Mittwoch vor Reisen in die Region.

In Österreich selbst kommen im wöchentlichen Mittel derzeit rund 30 bis 35 neue Covid-19-Erkrankungen pro Tag dazu – also etwa ein Zwanzigstel der Rekordzahlen im März –, und dieser Wert ist seit einem guten Monat stabil. Ähnlich viele genesen täglich, sodass sich die Zahl der gleichzeitig Erkrankten seit Ende Mai immer irgendwo zwischen 400 und 500 bewegt.

Am meisten Fälle in Wien

Die neuen Fälle verteilen sich allerdings nicht geografisch gleichmäßig auf das Bundesgebiet. Rund die Hälfte bis drei Viertel der Neuerkrankungen werden in Wien registriert. Weil dort aber die Zahl der wieder als gesund gemeldeten Personen ebenfalls stets am höchsten ist, hält sich die Menge an gleichzeitig Erkrankten mit 250 bis 300 Personen stabil.

Dahinter folgen Niederösterreich mit derzeit etwa 80 und Oberösterreich mit 40 Erkrankten. In Tirol waren am Mittwoch nur fünf Personen positiv auf Covid-19 getestet, weniger gab es mit vier Fällen in Vorarlberg.

Lage nicht risikolos

Risikolos sei die Lage aber keineswegs, sagt der Mathematiker Niki Popper von der Technischen Universität Wien. Sein Team hat Anfang Juni Modellrechnungen dazu erstellt, wie es mit den Coronavirusinfektionen im Juli weitergehen könnte. Die Bandbreite des Möglichen erstreckt sich dabei von einer – im schlechtesten Fall – Zunahme auf die hohen Fallzahlen von Anfang April bis hin zu einem Fallzahlminus.

Wie es tatsächlich weiter gehe hänge von zwei Komponenten ab, sagt Popper: "Wie rasch die Behörden Fälle erkennen und die Kontaktpersonen isolieren und wie sehr die Bevölkerung das Abstandhalten, das Masken tragen und die Hygiene respektiert".

390 Millionen Euro für Contact-Tracing

Die Behörden zu einem rascheren Vorgehen zu bewegen wiederum sei "sogar in einem hoch entwickelten Land wie Österreich eine Herausforderung". Derzeit etwa wisse man nicht, wie lang das Testen, Contact-Tracing und die Einleitung von Quarantäne bundesweit dauerten. Am Mittwoch kündigte die Regierung an, 390 Millionen Euro in dieses System zu investieren. (Irene Brickner, Michael Matzenberger, 24.6.2020)