Hashim Thaçi muss sich für Verbrechen im Kosovo-Krieg verantworten.

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Er hatte sich bereits so auf das Foto mit US-Präsident Donald Trump am Samstag im Weißen Haus gefreut. Der kosovarische Präsident Hashim Thaçi war schon auf dem Weg nach Washington, um dort mit seinem serbischen Amtskollegen Aleksandar Vučić ein Wirtschaftsabkommen zwischen den beiden Staaten zu unterschreiben. Doch die Reise wurde am Mittwochnachmittag von einer sensationellen Neuigkeit durchkreuzt: Der Präsident muss sich vor dem Sondergericht in Den Haag für Verbrechen während des Kosovo-Kriegs rechtfertigen. Die Staatsanwaltschaft hat Anklage erhoben. Diese muss jetzt erst überprüft werden.

Thaçi kehrte sofort um und reiste wieder Richtung Kosovo. Auch der kosovarische Regierungschef Avdullah Hoti sagte nach Bekanntwerden der Anklage seine Reise nach Washington ab. Somit dürften die geplanten Gespräche zwischen Serbien und dem Kosovo am Samstag in den USA platzen.

Bisher sind alle Politiker im Kosovo, sobald sie angeklagt oder aber auch nur einvernommen wurden, von ihren Ämtern zurückgetreten. Das wird nun wohl auch von Thaçi erwartet. Dem früheren Kommandanten der Kosovo-Befreiungsarmee (UÇK) – intern "die Schlange" genannt – werden in zehn Anklagepunkten eine Reihe von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen vorgeworfen, darunter Mord, das Verschwindenlassen von Personen, Verfolgung und Folter. In der Anklageschrift gegen Thaçi und den mächtigen PDK-Politiker Kadri Veseli werden den beiden fast 100 Morde vorgeworfen.

Albaner, Serben, Roma und andere als Opfer

Zu den Opfern gehörten laut Anklage Albaner, Serben, Roma und anderen ethnischen Gruppen, aber auch politische Gegner. Demnach sind auch die politischen Morde und Abrechnungen nach der Beendigung des Krieges in der Anklage enthalten. Die Staatsanwaltschaft hielt fest, dass es sich um das Ergebnis einer langwierigen Untersuchung handle. Ein Richter des Sondergerichts überprüfe nun, ob die Anklage bestätigt werde.

Besonders interessant ist die Begründung der Staatsanwaltschaft, weshalb die Anklage öffentlich gemacht wurde. Es habe nämlich "wiederholte Bemühungen" von Thaçi und Veseli gegeben, die Arbeit des Gerichts zu behindern und zu untergraben. "Es wird angenommen, dass Herr Thaçi und Herr Veseli eine geheime Kampagne durchgeführt haben, um das Gesetz zur Schaffung des Gerichtshofs aufzuheben und die Arbeit des Gerichtshofs auf andere Weise zu behindern, um sicherzustellen, dass sie nicht vor Gericht gestellt werden", heißt es in der Aussendung. "Mit diesen Maßnahmen haben Herr Thaçi und Herr Veseli ihre persönlichen Interessen vor die Opfer ihrer Verbrechen, die Rechtsstaatlichkeit und alle Menschen im Kosovo gestellt", endet das Schreiben mit deutlicher Kritik am Präsidenten.

Versuch, Gericht auszuhebeln

Einige Versuche Thaçis, das Gericht auszuhebeln, wurden auch öffentlich. Zuletzt versuchte er mit Veseli und Ex-Premier Ramush Haradinaj, der bereits vom Gericht einvernommen wurde, im Jahr 2017 das Gesetz, das das Gericht ermöglichte, im Parlament aufheben zu lassen. Doch die damalige Opposition stellte sich dagegen. Das internationale Gericht wurde erst im Jahr 2016 nach einem entsprechenden Gesetz im kosovarischen Parlament eingerichtet und steht außerhalb des kosovarischen Justizsystems. Es geht ihm um die Aufklärung der Verbrechen der UÇK gegen ethnische Minderheiten und politische Gegner zwischen 1998 und 2000, während und am Ende des Kosovo-Kriegs.

Die Vorwürfe gegen Thaçi sind nicht neu. Vor fast zehn Jahren, im Dezember 2010, veröffentlichte der Schweizer Jurist Dick Marty einen Bericht für den Europarat, in dem er Thaçi und anderen ehemaligen UÇK-Mitgliedern vorwarf, an Auftragsmorden und anderen Verbrechen beteiligt gewesen zu sein. Der Kosovo-Krieg zwischen der UÇK und serbischen Einheiten – der Kosovo gehörte zum damals noch existierenden Jugoslawien – wurde durch die Intervention der Nato 1999 beendet.

Schmutziger Deal

Interessant im Zusammenhang mit der Anklage gegen Thaçi ist, dass sich in den letzten Tagen im Kosovo und in diplomatischen Kreisen Gerüchte häuften, dass der Präsident bereit sei, einen "schmutzigen Deal" mit dem Trump-Gesandten Richard Grenell, der für Serbien und den Kosovo zuständig ist, und Serbien abzuschließen, nur um einer Anklage vor dem Gericht zu entgehen. Thaçi gilt wegen seiner Kriegsvergangenheit schon seit vielen Jahren als erpressbar. Grenell wiederum will unbedingt einen Deal zwischen Serbien und dem Kosovo – sehr zum Missfallen der EU, die dabei ausgebremst wurde – zustande bringen, um Trump zu zeigen, dass er ein "Dealmaker" ist, und in einer zweiten Amtszeit Trumps Sicherheitsberater oder Außenminister zu werden.

Das Treffen am 27. Juni im Weißen Haus sollte der Auftakt für ein Abkommen zwischen Serbien und dem Kosovo sein, für das eigentlich der EU-Verhandler Miroslav Lajčák zuständig ist, der erst in den letzten Tagen deswegen im Kosovo und in Serbien war. Die EU fördert die Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden Staaten, denn der Kosovo hat sich 2008 für unabhängig erklärt, Serbien hat diese Unabhängigkeit allerdings nicht anerkannt.

Die EU-Kommission erwartet jedenfalls, dass der EU-initiierte Normalisierungsdialog zwischen Serbien und Kosovo trotz der vorläufigen Anklage wie geplant im Juli fortgesetzt wird. Beide Seiten stimmen demnach darin überein, dass es einen "enormen Bedarf" der Fortsetzung gebe, hieß es. Die "Europäische Zukunft" der beiden Staaten führe über den Dialog.

Wiederholte Forderung nach Gebietstausch

Thaçi forderte vor seiner Abreise Richtung Washington zum wiederholten Male Grenzänderungen. Der sogenannte Gebietstausch, auf den sich Thaçi und Vučić bereits vor einigen Jahren geeinigt haben und bei dem serbisch besiedelte Gemeinden im Nordkosovo künftig zu Serbien gehören sollen und albanisch besiedelte Gemeinden in Serbien zum Kosovo, widerspricht der Verfassung des Kosovo und dem internationalen Recht. (Adelheid Wölfl, 25.6.2020)