"Noch nie in meinem Leben habe ich eine solche Angst empfunden", Mario Schlembach hat als Kind "Der Weiße Hai" auf Video geschaut.

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Ich bin gerade acht. Ungeduldig warte ich auf meine Geschenke. Wie gewünscht bekomme ich die roten Fußballschuhe und einen neuen Ball. Als ich bereits rausgehen möchte, entdecke ich in der Ecke ein großes Paket, das mit alten Zeitungen eingewickelt ist.

Das Riesenpackerl muss von wo ganz anders herkommen, denke ich, denn meine Mama verziert die Geschenke, als wären sie eigene Kunstwerke, was zwar schön ist, aber mich zerreißt es innerlich, wenn ich sie dann nur ganz vorsichtig aufmachen darf.

Wie die Ungeduldigsten am Buffet stürze ich mich auf das überdimensionale Paket und fetze das Papier weg. Was sehe ich? Bücher! ... pff ... Bücher mit olivgrünen und braunen Einbänden und diesen goldenen Verzierungen von klassischen Ausgaben, die eh keiner liest, aber sich schön im Regal machen. Ich bin verzweifelt. Bücher? Wirklich? Fußball, Fernsehen: Das interessiert mich, aber doch keine staubigen Bücher.

"Video 2000"

Ich starte noch einen Versuch. Bei so einem Riesenpackerl muss sich doch anderes finden lassen. Nach der zweiten Bücherreihe stoße ich auf ein graues unförmiges Ding, und endlich löst meine Mama das Rätsel: Ein älterer Herr aus dem Dorf hat unserer Familie seinen alten Videorekorder samt Filmsammlung geschenkt. Meine Augen leuchten, und ich nehme die Bücher heraus.

Erst jetzt sehe ich, dass sie aus Plastik sind, und in jedem liegt ein Video. Kassette für Kassette schlichte ich in den alten Bauernkasten und stehe bald vor meiner eigenen "Bibliothek". Mit diesem unendlichen Schatz bin ich der glücklichste Mensch, denn Filme sind seit jeher meine Ausflucht gewesen, um mich in andere Welten entführen zu lassen, die so viel aufregender waren, als das Fell eines Schafes abzurasieren oder unsere Felder zu bewirtschaften.

Noch bevor irgendwer was anderes sagen kann, schließe ich den Videorekorder an unseren Röhrenfernseher an. Nichts hat dieses Gerät mit den VHS-Rekordern meiner Freunde gemein. Das Millennium ist noch immer zehn Jahre entfernt, und trotzdem ziert ein Sticker mit der Aufschrift "Video 2000" das Gerät. Vielleicht habe ich hier etwas in Händen, mit dem ich allen bereits weit voraus bin? Ich lege die erste Kassette ein ... na, super ... Sissi ... was es eh an jedem Feiertag in Dauerschleife spielt ... wurscht! ... Kassette raus. Kassette rein ... Winnetou ... schon besser, aber auch hier kann ich Dialoge bereits mitsprechen ... Kassette raus.

Schlägereien und Explosionen

Schnell merke ich, dass der alte Mann einfach das komplette Fernsehprogramm aufgezeichnet hat. Es ist frustrierend, und doch falle ich in einen rauschartigen Zustand, um etwas Neues zu entdecken. Ungeduldig schaue ich mir so viel wie möglich im Schnelldurchlauf an. Bud Spencer und Terence Hill sowie Arnold Schwarzenegger und Sylvester Stallone begleiten mich auf dieser Reise und garantieren alleine durch ihr Erscheinen für eine gewisse Qualität, die ich voraussetze: Schlägereien und Explosionen. Der Rest sind irgendwelche Berglandschaften mit Leuten in Trachten, die sich wie die Puppen im Kasperltheater bewegen.

Meine Eltern gehen jetzt schlafen. Nach langem Betteln darf ich erstmals etwas länger aufbleiben und ich stöbere weiter durch meine "Bibliothek", bis ich auf Einbände stoße, die mit einem X markiert sind. Vielleicht ist da was Interessantes dabei? Kassette rein ... lange Unterwasserfahrt der Kamera. Danach junge Menschen am Strand. Eine wunderschöne Frau läuft mit einem Mann ans Meer. Sie zieht ihren Pullover aus. Sie zieht ihre Hose aus. Ich werde nervös. Sie zieht sich ganz aus. Der Mann versucht es auch, aber ist zu betrunken. Sie springt ins Wasser. Nackt. Schwimmt. Wieder Unterwasseraufnahmen.

Musik beginnt ... Tada Tada ... plötzlich wird die Frau runtergezogen. Taucht wieder auf. Wird runtergezogen. Taucht wieder auf. Panik in ihren Augen. Sie schreit. Schreit um ihr Leben. Und flutsch ist sie weg. Schwarzblende. Der weiße Hai. Noch nie in meinem Leben habe ich so eine Angst empfunden. Ich kann den Film unmöglich weiterschauen, da ich selbst hinter der Couch diese Musik noch höre ... Tada Tada.

Wasser ist gleich Hai

Am Morgen darauf ist Sonntag, und wir fahren zu Oma und Opa. Ich soll mich waschen gehen, sagt die Mama, aber ich tue nur so. Wasser ist gleich Hai, also die allergrößte Furcht jetzt. Ähnliches hatte ich bisher nur erlebt, wie ich einmal aufs Plumpsklo meines Papas neben dem Misthaufen gegangen war und kurz bevor ich mich niedersetzen wollte, eine Ringelnatter aus den Exkrementen kriechen sah. Danach hatte ich eine Woche lang Verstopfung.

Den ganzen Nachmittag bei meinen Großeltern kann ich nur noch an den Film denken. Selbst das Cornetto schmeckt mir nicht, weil ich plötzlich in seiner Form nur noch einen Haizahn erkenne. Trotz riesiger Angst setze ich mich am Abend wieder vor den Fernseher. Mit einem Polster bewaffnet, den ich mir an den schrecklichsten Stellen ins Gesicht drücke, schaue ich mir den Film bis zum Schluss an.

Wovor habe ich solche Furcht? Es dauert lange, bis die Bedrohung überhaupt zu sehen ist. Stets sind nur Andeutungen zu erkennen – Schemen des Monsters und schreiende Menschen –, und doch ist alles klar in meinem Kopf. Die Spannung ist kaum auszuhalten. Während der Bürgermeister, die Hoteliers und Geschäftsmänner den Strand nicht schließen wollen und die Gefahr herunterspielen, machen sich drei einsame Ritter auf den Weg, um den Hai zu bekämpfen.

Der Hai stirbt

Die Jäger versuchen es mit allen möglichen Strategien, aber werden bald selbst zur Jagdbeute. Als alle Stricke reißen, wagt sich der Studierte in einen Käfig, um das Vieh mit einer Injektion zu töten. Welch absurde Idee! Das Ungetüm braucht wenige Schläge, bis die Stäbe brechen und nur noch Restmüll bleibt. Im finalen Akt springt diese Naturgewalt auf das Boot und frisst den Kapitän. Nur einer ist jetzt noch übrig: der wasserscheue Polizist.

Bevor das Boot völlig versinkt, klettert er auf den Mast und zielt mit dem Gewehr auf eine Sauerstoffflasche, die das Tier wie einen Zahnstocher kaut. Erst mit dem letzten Schuss, Aug in Aug mit dem Monster, trifft der Held – und der Hai explodiert. Ich schreie auf vor dem Fernseher. Juble! Endlich ist die Bestie besiegt, und ich muss keine Angst mehr haben.

Kein anderer Film hat bisher solch eine Reaktion in mir ausgelöst. Als ich die Kassette rausnehme, sehe ich plötzlich, dass sie auch auf der anderen Seite bespielt ist. Im Gegensatz zu den VHS-Modellen meiner Freunde gibt es hier eine A- und eine B-Seite. Ich drehe also die Kassette um, drücke "Play" ... nicht schon wieder. Unterwasseraufnahmen. Bedrohliche Töne. Ein Taucher inspiziert das Boot, das ich gerade untergehen gesehen habe. Schreie. Schwarzblende. Der weiße Hai 2. Nein, es kann nicht sein!

Wie ist das möglich? Ich verstehe die Welt nicht mehr. Woran ist noch zu glauben, wenn das Böse immer wiederkehrt? Nachdem ich den ersten Schock überwunden habe, nehme ich den Polster von meinem Gesicht. Auch dieser Hai stirbt, diesmal genauso wie mein erster Hamster: Er beißt ins Elektrokabel.

Ich schaue immer genauer hin

Die kommenden Wochen sehe ich mir Der weiße Hai fast jeden Tag an und schaue immer genauer hin. Gewisse Passagen kann ich bald mitsprechen, und die Angst weicht einer Faszination. Was ist das für ein Wesen, das als eine solche Bestie dargestellt wird? Meine Informationen über das Tier habe ich bisher nur aus diesem Film. Es handelt sich also um einen blutrünstigen Killer, der sich hauptsächlich von Menschen ernährt und keine Gnade kennt.

Zum ersten Mal in meinem Leben gehe ich freiwillig in unsere dürftig bestückte Schulbibliothek, um möglichst viel über dieses Ungeheuer zu erfahren. Das Abbild von den Haien im Film stimmt nur rudimentär. Nichts wollen diese Geschöpfe vom Menschen, der sich durch seine missglückte Ernährung für den Verzehr selbst disqualifiziert. Unser versalzenes Fleisch ist für die Tiere ungenießbar und bringt ihnen nicht die Nährstoffe, die sie fürs Überleben brauchen.

Warum sollten sich die "Könige der Meere" in einer Haubenküche mit dem billigsten Hundefutter begnügen? Und doch kommt es immer wieder zu Vorfällen, weil der Mensch unvorsichtig in ihr Revier eindringt. Die Finger der Haie sind ihre Zähne. Bevor sie etwas fressen, berühren sie es und erkennen sofort, ob es genießbar ist oder nicht. Nur ist da der Mensch, der auf seinem Surfbrett wie eine Robbe aussieht, bereits tot oder schwerverwundet.

Eine Lobby für die Tiere

Diese faszinierenden Wesen, die dank der Evolution zu perfekten Jägern wurden und über einen sechsten Sinn verfügen, sorgen für eine unabdingbare Balance im Meer. Der Mensch jedoch, der sie aus den abscheulichsten Gründen fängt, ihnen lebendig die Flossen abschneidet und zurück ins Wasser wirft, wo sie elendig ersticken, wird es bald geschafft haben, sie auszurotten.

Die Lobby für diese Tiere ist bescheiden. Nicht zuletzt wegen eines Journalisten, der nach vereinzelten Vorfällen an US-Küsten, die mit reißerischen Artikeln und falschen Fakten medial aufgebauscht wurden, einen Roman verfasste, in dem ein übergroßer Hai auf Menschenjagd geht. Die Verfilmung kam am 20. Juni 1975 nach langen Produktionsschwierigkeiten in die Kinos.

Die mechanische Haiattrappe funktionierte nur in einem Drittel der im Drehbuch vorgesehenen Stellen, also musste der junge Regisseur Steven Spielberg kreativ werden. Gemeinsam mit der Musik von John Williams schuf er einen Horror, der sich hauptsächlich im Kopf abspielt.

Der Film wurde zum Publikumserfolg und leitete nicht nur die Ära des Blockbusterkinos ein, sondern prägte auch das Image des weißen Hais nachdrücklich. Noch heute träume ich von Haien, wenn ich mich mit Dingen befasse, die mich bis auf die Knochen erschüttern, doch seit dem Film weiß ich auch, dass jede Geschichte zwei Seiten hat. (Mario Schlembach, 27.6.2020)