Nach den strengen Maßnahmen im März ist rechtzeitig zum Ferienbeginn die Phase der großen Lockerungen gekommen: Am Mittwoch verkündete die Regierung, dass etwa die Maskenpflicht für Kellner fällt und es keine Mindestabstandsregelungen bei der Sportausübungen mehr gibt. Ab September sind unter bestimmten Voraussetzungen Events im Freien mit bis zu 10.000 und drinnen mit bis zu 5000 Teilnehmern erlaubt.

Welche Aktivitäten jeder von uns in den nächsten Monaten trotz des Covid-19-Risikos wieder aufnehmen wird, müssen wir für uns selbst entscheiden. Diese Risikoeinschätzung fällt aber vielen schwer. Experten tun sich damit im Normalfall leichter, weil sie sich Tag für Tag mit Ansteckungswahrscheinlichkeiten, mit dem Corona-Infektionsgeschehen oder mit den Folgen von Covid-19-Erkrankungen beschäftigen.

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Aber auch Wissenschafterinnen und Mediziner besuchen Restaurants (oder eben nicht), haben ältere Angehörige und Kinder, die ins Ferienlager möchten. Wir haben deshalb nach dem Vorbild der "New York Times" insgesamt 17 Expertinnen und Experten befragt, wie sie ihre Alltagsaktivitäten gestalten. Die befragten Personen (die vollständige Liste findet sich am Ende des Artikels) kommen aus den Fachgebieten Virologie, Epidemiologie, Immunologie, evidenzbasierte Medizin, Public Health, Genetik oder Soziologie, und alle haben in den letzten Monaten an Covid-19 geforscht und/oder Infizierte behandelt.

Lokales Infektionsrisiko

Grundsätzlich machen so gut wie alle befragten Experten ihr Verhalten von der Wahrscheinlichkeit abhängig, auf eine infizierte Person zu treffen. Dabei spielt das lokale Infektionsgeschehen des Wohn- und Arbeitsorts sowie das der Urlaubsdestination die entscheidende Rolle. "Poppen plötzlich neue und größere Erkrankungscluster in meinem Wohn- oder Arbeitsbezirk auf, würde ich wahrscheinlich auf Kino-, Theater oder Restaurantbesuche verzichten", meint etwa der Intensivmediziner Walter Hasibeder. Die Virologin Christina Nicolodi, die in Laxenburg lebt und arbeitet, wo es so gut wie keine Infektionsfälle gab, traut sich deshalb womöglich etwas mehr, als wenn ihr Lebensmittelpunkt in einer Großstadt wäre.

Die Teilnehmer der Umfrage weisen zudem auf persönliche Umstände hin, die ihr Verhalten bestimmen. Also etwa, ob im gemeinsamen Haushalt eine Person lebt, die zur Risikogruppe zählt und deshalb besondere Vorsicht nötig macht. Bei Treffen von Angesicht zu Angesicht wägen fast alle Experten ab, wie notwendig ein Treffen ist. Persönliche Besuche bei Familienangehörigen oder Freunden haben Priorität, weniger wichtige Treffen finden digital statt. "Ich würde das Begräbnis einer mir nahestehenden Person eher wahrnehmen als eine nachholbare WG-Party", sagt Verena Mayr, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation der Donau-Uni Krems.

Die Vorzüge der Freiluftaktivitäten

Die meisten der Befragten geben zudem an, dass sie so gut wie alle Aktivitäten im Freien unbedenklich halten. Wenn es um Aktivitäten in Innenräumen geht, machen es viele Experten vom konkreten Setting ab, also wie viel Platz und Luft pro Person zur Verfügung steht. Der Kardiologe Georg Delle Karth hält "alle Aktivitäten für vertretbar, wo ein Abstand von 90 cm oder mehr gewahrt bleiben kann – auch indoor, wenn eine adäquate Raumbelüftung herrscht. Falls dem nicht so ist, verwende ich einen Mund-Nasen-Schutz wie im Krankenhaus."

Barbara Nußbaumer-Streit, stellvertretende Direktorin von Cochrane Österreich, trifft zurzeit lieber Menschen "in kleineren Gruppen, damit man im schlimmsten Fall die Kontakte leichter rückverfolgen kann".

Wo die Gefahren schlummern

Für strukturell gefährlich halten die befragten Mediziner und Wissenschafter prekäre Arbeitsverhältnisse (wie im Verteilerzentrum oder Schlachthof); gewarnt wird vor Arztpraxen mit langen Wartezeiten oder Reisen in Gebiete mit hohen Fallzahlen – und vor No-Gos wie "mit Wildfremden gemeinsam aus einem Becher zu trinken", so die Sozialmedizinerin Claudia Wild. Notfallmediziner Philip Eisenburger erweitert die Liste um Chorproben oder Boxen im Fitnesscenter. Auch auf Besuche im Altersheim oder Krankenhaus sollte man zum Schutz der Patientinnen und Patienten verzichten.

Am Strand mit Maske: Spätestens in den nächsten drei Monaten will ein Großteil der befragten Expertinnen und Experten wieder ins Ausland fahren.
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So gut wie alle Befragten halten nahezu sämtliche geltenden Vorsichtsmaßnahmen für sinnvoll. Ohne sie sei eine zweite Welle unausweichlich, warnt der Grazer Immunologe und Kinderarzt Volker Strenger. Es gibt aber auch einige Regelungen, die manche als übertrieben erachten: Der Public-Health-Experte Martin Sprenger, ebenfalls aus Graz, nennt hier konkret die Schließung von Kindergärten und Volksschulen sowie Regeln zu Feriencamps. In Zügen könne man eigentlich auf einen Mund-Nasen-Schutz verzichten, wenn man mit großem Abstand zu anderen sitze, meint wiederum der Kardiologe Delle Karth.

Sinnvolles und Übertriebenes

"Für absolut nicht nachvollziehbar halte ich das Festhalten der Regierung an der hohen Reisewarnung für Nachbarländer", meint der Soziologe Bernhard Kittel. Das grenze "vor allem im Kontext der kontinuierlichen Aufforderungen unserer Tourismusministerin, doch im schönen Österreich Urlaub zu machen, fast schon an Nötigung". Für Mayr sind Antikörpertests vor der Rückkehr an den Arbeitsplatz sowie Fiebermessungen am Eingang von Fabriken aufgrund ihrer beschränkten Aussagekraft bzw. Sinnhaftigkeit eher entbehrlich.

Einig sind sich auch die meisten Experten, dass – jedenfalls in Innenräumen mit vielen Personen – die Verwendung eines Mund-Nasen-Schutzes sinnvoll sei. "Mit Maske wären etwa die Salzburger Festspiele oder Kongresse problemlos machbar", glaubt Eisenburger, der das Tragen eines entsprechenden Schutzes für die wirksamste Maßnahme hält, die "leider rein altruistisch" sei. Die Abschaffung der Maskenpflicht für Supermarktwurstverkäufer oder Kellner hält der Notfallmediziner "für die schlechteste Idee". Das seien doch – siehe Ischgl – "die Multiplikatoren". (Bernadette Redl, Klaus Taschwer, 27.6.2020)