Bedroht ist heute ein Zitat Voltaires (1694–1778): "Ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen."

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Wenn Protestierende der Bewegung Black Lives Matter Statuen von Christoph Kolumbus stürzen wollen und Angestellte des US-Verlags Hachette dagegen protestieren, dass er nach Joanne K. Rowlings recht konservativem Tweet zu Transgenderpersonen deren neues Kinderbuch herausbringt, haben beide Vorfälle etwas miteinander gemein: Man kann sie der Cancel-Culture zurechnen. Sie ist in den USA das Schlagwort der Stunde. Cancel- Culture bedeutet, jemanden öffentlich zu boykottieren, seine Auftritte zu unterbinden, ihn nicht mehr stattfinden zu lassen, ihn auszuradieren. Die Entscheidung darüber fällt in den sozialen Netzwerken.

Gecancelt werden kann prinzipiell jeder, Person oder Unternehmen, der sich politisch, künstlerisch oder in sonstigen Äußerungen nicht wohlverhält. Nicht immer braucht es erfüllte juristische Tatbestände, moralische Urteile reichen. Kritiker mokieren daran Aspekte von Mobbing. Ein Shitstorm wird losgetreten, Kollegen distanzieren sich, auch Produktionsfirmen.

#MeToo als Turbo

Generell war #MeToo in den vergangenen Jahren ein Turbo für Cancel-Culture. Schauspieler wie Kevin Spacey wurden aus Serien geschnitten, und der Streamingdienst Spotify führte etwa einen Stummschalteknopf ein, sodass unliebsame Künstler einem nicht mehr in die Playlist rutschen können. Dem vorausgegangen waren Forderungen, den wegen Kindesmissbrauchs angeklagten Sänger R. Kelly auf der Seite zu blocken. Cancel-Culture traf auch Kunstwerke, die abgehängt werden sollten. Zugleich wurde Eugen Gomringers Gedicht Las Avenidas an der Fassade einer Hochschule übermalt, da Studierende es als sexistisch empfanden.

Eine Vorstufe hat die Praxis dieses öffentlichen Boykottierens im Callout, dem öffentlichen Anprangern. Darüber hinaus geht es Cancel-Culture um eine Reinigung des öffentlichen Raums von emotional verletzenden Inhalten, weswegen in den USA viele von einer "Suche nach Reinheit" sprechen. Ein anderer verwandter Begriff ist "Gericht der öffentlichen Meinung". Doch mit juristischen Standards hat Cancel-Culture wenig zu tun. Das macht sie so umstritten.

Ideologische Bruchlinien

Das Problem dabei ist weniger Zensur im strengen Sinn, denn Bücher können in anderen Verlagen erscheinen, und in vielen Fällen hält ein Boykott nicht sehr lange an. Doch Cancel-Culture verändert die Debattenkultur, indem sie nach subjektiven Kriterien und oft entlang ideologischer Bruchlinien auszugrenzen versucht. Wenn jeder für einen falschen Schritt geschasst werden kann, schüchtert das Gedanken ein, die den Common Ground ohne böse Absicht manchmal auch strapazieren. Meinungsredakteure der New York Times diskutierten das in einem Podcast, nachdem ihr Kollege James Bennet sich nach dem Skandal um die Veröffentlichung eines Kommentars zurückziehen musste. Auch auf anderen Feldern sind Folgen denkbar: Etwa, dass Forschung, die zu sozial unerwünschten Ergebnissen führt, nicht mehr betrieben wird.

Voltaires "Ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen" ist exemplarisch für den Austausch, den freie Gesellschaften brauchen. Was aber voraussetzt, dass alle Seiten gleichermaßen angehört werden.

Selbstermächtigung

Hier kommt die Frage nach Macht ins Spiel. Der Schwarze Essayist Ta-Nehisi Coates weist richtigerweise darauf hin, dass Cancel-Culture immer schon existiert hat – allerdings nur für die Mächtigen. Die sozialen Netzwerke hätten sie aber demokratisiert. Die "neue Cancel-Culture" ist demgemäß eine Selbstermächtigung bisher unzureichend repräsentierter und oft übergangener Gruppen, deren Vertrauen in die Legitimität von traditionell mit Rechtsprechung betrauten Institutionen erschüttert ist. Nicht umsonst benennen Proteste fast ausschließlich Ungerechtigkeiten gegenüber Frauen, People of Color und sexuell Diskriminierten. Nachdem sich die Community eine negative Meinung gebildet hatte, stieg etwa Scarlett Johansson aus dem Film Rub and Tug aus, wo sie einen Transsexuellen spielen sollte.

Identitätspolitik ist für Teile der Bevölkerung eine zentrale politische Kategorie geworden. Manche sehen in der Cancel-Culture also einen Generationenwechsel an derselben Front: von klassischen Liberalen (über 40 Jahre) zu den "wokes" (unter 40). Der Begriff ("wach") kommt aus dem afroamerikanischen Kampf um Gleichberechtigung, meint nach einer Umdeutung aber alle Anhänger einer von Kritikern als überschießend, emotional und vereinfachend beurteilten linken Selbstzufriedenheit.

Reflex und Relexion

Kritik Marginalisierter ist nötig und muss gehört werden. Doch wie lässt sich Aktivismus von Cancel-Culture abgrenzen? Fängt das Problem da an, wo die persönliche Entscheidung, auf Taten eines Künstlers zu reagieren, zur Kampagne wird? Oder beim Versuch, kurzen Prozess zu machen und Diskurse per Boykott kurzzuschließen? Dass reflexhafte Reinigungsmanöver oft ohne tiefere Reflexion von Strukturen auskommen, zeigt das Beispiel der britischen Comedyserie Little Britain, die infolge von Black Lives Matter sowohl von Netflix als auch von der BBC wegen ihrer Darstellung von Schwarzen mittels angemalter Gesichter aus dem Programm genommen wurde. Tatsächlich parodiert Little Britain auch Menschen mit körperlicher Behinderung. Das war den Verantwortlichen wohl eher egal. (Michael Wurmitzer, 27.6.2020)