Franz Vranitzky ruft zu Zusammenhalt in Europa und in Österreich auf.

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STANDARD: Herr Dr. Vranitzky, Sie waren Banker, Finanzminister und von 1986 bis 1997 Bundeskanzler zu einer Zeit, als die Verstaatlichtenkrise zu bewältigen war. Wie beurteilen Sie die wirtschaftliche Performance der Regierung in der jetzigen Krise?

Franz Vranitzky: Die Bundesregierung hat rechtzeitig erkannt, dass man wirtschaftlich in der Krise gegensteuern muss. Am Anfang war das etwas konfus, man ist von vier auf 38 Milliarden gesprungen, und jetzt reden wir von 50 Milliarden, ohne zu wissen, ob das ausreicht. Aber der gute Wille sei nicht bestritten. Das Wiederanfahren wird schwierig werden, es gibt Probleme, die gar nicht abzusehen sind. Man muss daher verlangen, dass das Wiederanfahren der Wirtschaft professioneller sein wird als die zugesagten Hilfen Anfang April und Mai.

STANDARD: Wäre Ihnen als Kanzler eingefallen, die Administration der Hilfen zu einem Großteil der Wirtschaftskammer, einer Interessenvertretung, zu überantworten?

Vranitzky: Es ist längst bekannt, dass der bessere Weg gewesen wäre, über die Finanzämter zu operieren. Aber grundsätzlich: Liquidität ist für Firmen in einer Krisenlage unverzichtbar. Aber nur Eigenkapital gibt ihnen Luft zum Atmen. Daher muss man prüfen, in welcher Weise öffentlich-rechtliche Beteiligungen stattfinden sollen, selbstverständlich befristet, wo die öffentliche Hand nach Erholung wieder aussteigt.

STANDARD: Das wäre sozusagen eine Strategie zur Krisenbekämpfung. Was wäre eine offensive Wirtschaftspolitik?

Vranitzky: Ich glaube, dass sich heute Industrie und Politik zu einem gemeinsamen Vorgehen zusammensetzen müssen, und zwar nicht nur auf österreichischer, sondern vor allem auf europäischer Ebene. Es ist eine gemeinsame Strategie auszuarbeiten. Es geht weniger um den Wettbewerb innerhalb der EU, sondern darum, Europa insgesamt im internationalen Kräftespiel zu stärken, dem wir einen großen Teil unseres Wohlstands verdanken.

STANDARD: Ein Ruf nach einem geopolitischen Konzept der EU?

Vranitzky: China ist einer der bedeutendsten Faktoren geworden, aber die andere Großmacht USA schwächelt, und ein Ergebnis sind die von Washington angezettelten Handelskriege. Die Amerikaner belegen uns mit Sanktionen, das sind unhaltbare Zustände. Deswegen muss sich Europa enger zusammenschließen.

STANDARD: Die EU debattiert aber derzeit, ob sie von der Corona-Krise getroffenen Staaten großzügig mit direkten Zuschüssen helfen soll. Die "Sparsamen Vier" mit Kanzler Sebastian Kurz sind dagegen.

Vranitzky: Ich gehe von einem völlig anderen Ansatz aus. Die Verantwortlichen in der EU müssen sich der Funktion des europäischen Projekts klar werden und das auch für die Bürger verständlich klarstellen. Damit die Bürger die Folgen und die Nutzen des Projekts erkennen. Wenn das gelingt, dann würde man auch verstehen, dass die Unterstützung für die südlichen Mitglieder zugleich die Absicherung unserer eigenen ökonomisch-politischen Interessen ist.

Den EU-Betritt könne man nur "in jeder Hinsicht positiv bilanzieren", sagt Vranitzky.
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STANDARD: Vor 25 Jahren sind wir unter Ihrer Kanzlerschaft und mit Alois Mock als Außenminister der EU beigetreten.

Vranitzky: Man kann das nur in jeder Hinsicht positiv bilanzieren. Erhard Busek sagt immer zu Recht, wir sind vom Rand des freien Europas ins Zentrum gerückt. Was man aber mit der Bevölkerung diskutieren muss, ist das Bewusstsein, was es heißt, mittendrin in diesem Einigungsprozess zu stehen. Da ist einiges versäumt worden. Wir sind in einer krisenhaften Situation, auch wegen des verlorengegangenen Zusammenhalts in der westlichen Welt. In Europa haben wir die eine oder andere politische Führung, die sich weigert, gemeinsame europäische Wege zu gehen.

STANDARD: Man kann auch sagen: die sich weigert, gemeinsame westliche Werte zu vertreten wie Demokratie, Rechtsstaat usw. Stichwort Ungarn, Polen.

Vranitzky: Wenn es der europäischen Führung gelingt, überzeugend zu sein, dann werden auch diese illiberalen Erscheinungen wieder verschwinden, weil die dortige Bevölkerung erkennt, was für sie besser ist.

STANDARD: Ist Kanzler Kurz im Begriff, Österreich von der Mitte Europas wieder an den illiberalen Rand zu verschieben?

Vranitzky: Er könnte sich mehr zu dem gemeinsamen Europa bekennen. Sein Bekennen fällt nicht besonders deutlich aus, indem sich die österreichische Regierung wegduckt, wenn es darum geht, die ungarischen Demokratieverhältnisse zu kritisieren. Aber sie duckt sich auch bei den Rassismusvorfällen in den USA weg. Das ist vielleicht diplomatisch charmant, aber es genügt nicht.

STANDARD: Sind die USA noch die Vormacht des demokratischen Westens?

Vranitzky: Diese Zeit ist vorbei. Aber das muss ja nicht für alle Ewigkeit stimmen. Was wir erleben, ist eine tiefe Spaltung der US-Gesellschaft. Ein nächster Präsident, der hoffentlich nicht Trump heißt, muss diese Spaltung überwinden.

STANDARD: Zu Russland: Sie haben seinerzeit bei Gorbatschow die Skepsis gegenüber unserem EU-Beitritt ausgeräumt – die Hoffnung Gorbatschow hat sich zerschlagen, jetzt haben wir seit 20 Jahren Putin. Müssen wirtrotzdem mit Russland unendlich geduldig sein, müssen wir die Sanktionen aufheben?

Vranitzky: Europa hat Gorbatschow zugejubelt und geschätzt. Europa hat dieses Zeitfenster nicht genutzt, um mit den Nachfolgern, vor allem Putin, zu einem partnerschaftlichen Verhältnis zu kommen. Ich gehöre nicht zu den Putin-Verstehern, aber ich sehe mich als Europa-Versteher, und als solcher frage ich mich: Haben die bisherigen Sanktionen Erfolg gehabt? Die Antwort ist dürftig. Noch dazu haben wir uns im Verhältnis zu Russland vor den Karren der USA spannen lassen. Wenn Trump uns mehr oder weniger verbietet, die Pipeline Nord Stream 2 zu bauen, können wir nicht hinnehmen, dass uns das vom Weißen Haus dirigiert wird. Verlängerte Sanktionen sind eher eine Sackgasse. Ich habe keine Ratschläge, aber ich weiß, dass für die Wirtschaft dieser riesengroße Markt Russland für uns verschlossen ist. Es ist daher jeder Schritt, der zur Entspannung führt, einen Versuch wert.

STANDARD: Wenn man sich Österreich heute ansieht, wie schätzen Sie den Status Österreichs als entwickelte Demokratie ein?

Vranitzky: Es hat viele gesellschaftliche Veränderungen gegeben, zum Beispiel in der Kommunikation. Ich zweifele nicht grundsätzlich an der Qualität der demokratischen Verhältnisse in Österreich. Die österreichische Demokratie braucht und darf sich vor keiner anderen verstecken. Was wir nicht mehr haben, ist die alte Konsensdemokratie. Die war eine Basis für den Erfolg. Aber sie war möglicherweise zu lange mit sich selbst zufrieden. Und heute legen die handelnden Personen auf Konsensdemokratie nicht so großen Wert.

STANDARD: Teilen Sie die Befürchtungen mancher, dass Österreich unter Türkis bzw. Türkis-Blau in Richtung einer Orbánisierung ging oder geht?

Vranitzky: Manche hegen diese Befürchtungen. Sollte sich ein solcher Unfug tatsächlich abzeichnen, müssen alle liberaldemokratischen Kräfte aufstehen und ihn verhindern.

(Hans Rauscher, 27.6.2020)