Wien – Was sich in den vergangenen Tagen in Wien-Favoriten abgespielt hat, sorgt über die Stadt- und mittlerweile Landesgrenzen hinaus für Aufsehen. Immer wieder kam es zu Störaktionen gegen antifaschistische Kundgebungen und Demonstrationen sowie zu Angriffen auf ein linkes Zentrum, das Ernst-Kirchweger-Haus (EKH), durch türkische Nationalisten und Rechtsextreme. Es gab Verletzte, darunter etwa ein kurdischer Journalist.

Bereits am Wochenende kündigte die Regierung Maßnahmen an. Dazu gehören etwa ein polizeiliches Vorgehen gegen die Hintermänner der Ausschreitungen sowie verstärkte Polizeipräsenz an bestimmten Orten. Für Montag wurde zudem der türkische Botschafter Ozan Ceyhun in das Außenministerium eingeladen.

Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) forderte den offiziellen Vertreter der Türkei auf, Demonstranten nicht mehr als Unterstützer von Terrororganisationen zu bezeichnen. Das sei "eine Diktion, die wir ablehnen", hieß es nach dem Treffen. Es sei "in unser aller Interesse, dass kein Import ausländischer Konflikte nach Wien stattfindet". Ceyhun sagte in der "ZiB Nacht": "Wir haben beidseitig den Wunsch geäußert, dass wir in Wien Ruhe haben wollen."

Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) kündigte am Montag eine konsequente Verfolgung der Straftaten an.
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Türkei übt Kritik und lädt ebenfalls Botschafter zum Gespräch

Wie am Montag bekannt wurde, hat auch das türkische Außenministerium den österreichischen Botschafter in der Türkei eingeladen. In einer Mitteilung wurde harsch kritisiert, dass die österreichischen Behörden vier Tage lang Demos "von mit der PKK verbundenen Gruppen" in Wien hätten stattfinden lassen. Das sei ein weiterer Beleg, "wie wenig ehrlich der Kampf mit dem Terror geführt wird".

"Es kann keinesfalls akzeptiert werden, dass über diese Demonstrationen Propaganda für die Terrororganisation PKK gemacht, bei der Verwendung ihrer Symbole weggeschaut und unser Land ins Visier genommen wird", erklärte das türkische Ministerium. Außerdem "verurteilen wir den harten Einsatz der Polizei, der dazu geführt hat, dass türkischstämmige junge Menschen verletzt und der türkischen Gemeinschaft gehörende Geschäfte beschädigt wurden". Der Besuch am Montag wurde aus Termingründen nicht von Botschafter Johannes Wimmer selbst, sondern vom Geschäftsträger der Botschaft wahrgenommen, hieß es.

Nehammer weist Kritik zurück

Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) wies die Vorwürfe der Türkei zurück, die österreichischen Behörden würden Veranstaltungen "der Terrororganisation PKK und ihrer Unterstützer" in Wien zulassen. Die PKK sei in Österreich verboten, und so, wie man gegen den rechtsextremen Wolfsgruß vorgehe, gehe man auch gegen Symbole der PKK vor: "Wir gehen da mit demselben Maß vor", betonte Nehammer bei einer Pressekonferenz am Montag. Es gebe "null Toleranz für Gewalt, egal von welcher Seite".

Die Polizei begleitet eine antifaschistische Kundgebung am Freitag.
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Raab will Integration forcieren

"Wir wollen in Österreich, insbesondere in Wien, keine Bilder von Gewalt auf den Straßen wie aus anderen Ländern", kommentierte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) die Situation am Sonntag. Diese Botschaft wurde auch bei der Pressekonferenz von Nehammer und Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) immer wieder wiederholt: Es sei "völlig inakzeptabel", dass auf "österreichischem Territorium türkische Konflikte ausgetragen werden", sagte Nehammer.

Er stellte einen runden Tisch mit dem Innenministerium, dem Integrationsministerium, dem Verfassungsschutz, dem Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit und dem Integrationsfonds wohl noch diese Woche in Aussicht. Außerdem will der Innenminister dem Nationalen Sicherheitsrat von den Vorfällen berichten.

Auch Raab fiel mit scharfer Rhetorik auf: Solche Vorfälle dürften in Österreich "keinen Einzug halten". Man sehe, wie stark Parallelgesellschaften in Wien bereits ausgeprägt seien, sagte die Integrationsministerin und warnte vor Zuständen wie im schwedischen Malmö, dem belgischen Molenbeek oder den französischen Banlieues. Eine genauere Erklärung, inwiefern die Situationen vergleichbar seien, blieb aus. Man müsse künftig jedenfalls Integration mehr forcieren, indem man Zuwanderer "fördert und fordert". Dem Ministerium lägen Zahlen vor, dass sich 45 Prozent der Menschen mit türkischem Migrationshintergrund der Türkei stärker zugehörig fühlen als Österreich.

Szenen von der Demo am Freitag.
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Material wird ausgewertet

Die Bilanz aus polizeilicher Sicht gestaltet sich folgendermaßen: Sieben Polizisten sind im Einsatz verletzt worden, ebenso ein Diensthund. Es kam zu elf Festnahmen, 57 Anzeigen und 220 Identitätsfeststellungen. Das umfangreiche Bildmaterial werde derzeit ausgewertet, sagte Nehammer. Jede Straftat werde konsequent verfolgt. Bei den Störaktionen wurde immer wieder der verbotene Wolfsgruß der rechtsextremen Grauen Wölfe gezeigt.

Die Polizei ortet die "Initialzündung" der Unruhen am Mittwochabend. Kurz zuvor wurden Demonstrantinnen bei einer Kundgebung für Frauenrechte von türkischen Nationalisten bedrängt und mussten anschließend in das EKH flüchten. Vor Ort habe man festgestellt, dass innerhalb weniger Stunden bis zu 500 Personen mobilisiert werden können, um "aggressiv gegen die Polizei vorzugehen", sagte Wiens Vizepolizeipräsident Franz Eigner bei der Pressekonferenz. Darunter sei eine hohe Anzahl junger Menschen gewesen. Die Aufgabe, die Versammlungen zu schützen, sei schwierig gewesen. "Es gab Flaschenwürfe gegen Polizei und Demonstranten, auch Eisenstangen wurden eingesetzt", sagte Eigner. Am Freitag und Samstag sei es dann gelungen, exzessive Gewalt zu verhindern. Von antifaschistischen Aktivisten wurde mitunter unzureichender Schutz seitens der Polizei kritisiert.

Verstärkte Polizeipräsenz

Nehammer stellte klar, dass man "alles tun wird, dass wesentliche Elemente der Demokratie gewahrt bleiben, darunter die Versammlungsfreiheit". Er kündigte an, dass die Polizei in den nächsten Tagen verstärkt in Favoriten präsent sein wird. So wolle man auf spontane Kundgebungen – derzeit sind keine Versammlungen angemeldet – reagieren können.

Zudem werde man einen Fokus auf die Ausforschung jener Personen legen, die hinter der Eskalation stehen. Der Verfassungsschutz sei angewiesen worden, die Ermittlungen "intensiv" zu führen. Schon am Freitag habe es ein erstes Treffen mit türkischen Vereinen gegeben.

Gefahr durch Graue Wölfe?

Auf die Frage einer Kollegin des ORF, ob man die Gefahr, die von den Grauen Wölfe ausgehe, in den vergangenen Jahren unterschätzt habe – sie kommen im aktuellen Verfassungsschutzbericht nur als Opfer der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) vor –, sagte Nehammer: "Der Verfassungsschutz beobachtet die Szene sehr genau." Die Reform des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) werde aber jedenfalls auch eine "neue Qualität der Gefahrenaufklärung" bringen. Man müsse jedenfalls zwischen Provokationen Einzelner mittels Wolfsgruß und der Frage, ob Strukturen der Grauen Wölfe direkt involviert waren, unterscheiden. Das werde nun analysiert, man werde "genau hinschauen, welche Vereine mobilisieren und in welchem Auftrag". Experten warnen seit Jahren vor dem Einfluss der rechtsextremen Gruppe auf die türkische Diaspora.

Der Begriff Rechtsextremismus kam bei der Pressekonferenz allerdings nicht vor. Laut Nehammer "eskalieren beide Seiten die Gewalt, von beiden gab es Angriffe auf die Polizei". Er ersuche sowohl "Vereine der Türken als auch der Kurden, intensive Kooperationsbereitschaft zu zeigen".

Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) sieht hingegen einen "klaren Aggressor: türkische Faschisten und Nationalisten." Die Darstellung als Nationalitätenkonflikt entpolitisiere eine Konstellation, in der einander im Wesentlichen Antifaschisten und Faschisten gegenüberstünden.

Dokustelle ab Sommer

Im Sommer soll, wie bereits am Sonntag von der Regierung angekündigt, die Dokumentationsstelle für politischen Islam auf den Weg gebracht werden. Sie soll aus einer operativen Einheit mit Fachexperten und einem wissenschaftlichen Beirat bestehen und unter anderem einmal pro Jahr einen Bericht vorlegen. (Vanessa Gaigg, 29.6.2020)