Foto: SÖZ

Wien – "Favoriten – Was läuft falsch?" Unter diesem Titel lud die Partei "Soziales Österreich der Zukunft" (SÖZ), die einen Antritt bei der Wien-Wahl am 11. Oktober plant, am Sonntag "Eltern, Jugendliche und Freunde" in ihr Büro in die Gudrunstraße ein, um die Ereignisse der letzten Tage zu diskutieren. Moderiert wurde die Veranstaltung von SÖZ-Obmann Hakan Gördü, ehemals Vizechef der AKP-nahen Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD).

Die Teilnehmer der Diskussion waren fast alle türkischstämmig. "Ich habe einen Sohn, den ich nirgends allein hinschicken kann, weil ich ihn beschützen muss", sagte eine junge Frau, als über die Ausschreitungen diskutiert wurde. "Die Jugendlichen trifft keine Schuld, sondern unsere eigenen Leute von den Vereinen. Die hätten hinausgehen müssen und sagen: Geht nach Hause, hört auf mit dem Blödsinn", meinte ein Vater. Nur vereinzelt sei das passiert. Ein junger Mann sagte, dass PKK-Flaggen bei den Demonstrationen gezeigt worden seien – eine Provokation für Türken, gerade im zehnten Bezirk. Das sahen auch einige andere Gäste so.

Gördü: Extremisten auf beiden Seiten

"Es waren schon ein paar PKK-Anhänger dabei, das hat man auch an Fahnen gesehen, aber die waren bei weitem nicht die Mehrheit, also höchstens zehn bis zwanzig Prozent der Demonstranten", sagt Politikwissenschafter Thomas Schmidinger, der an zwei Tagen bei den Demonstrationen vor Ort war. Die PKK ist in der EU als Terrororganisation eingestuft, in Österreich ist nur eines ihrer Symbole verboten. Auf der anderen Seite standen türkisch-nationalistische junge Männer, die zumindest zum Spektrum der Grauen Wölfe gehören, sagt Schmidinger, was man daran erkennen konnte, dass sie den Wolfsgruß gezeigt hätten. Der Gruß der Grauen Wölfe ist seit einer Novelle des Symbole-Gesetzes 2018 verboten.

"Natürlich sind die Jugendlichen schuld an der Gewalt", sagt Gördü gegenüber dem STANDARD, betont aber, dass es auf beiden Seiten Extremisten gegeben habe. "Eine Demo, bei der die Fahnen der YPJ zu sehen sind, ist keine Frauendemo, sondern die Demo der bewaffneten Frauenmiliz der PYD/YPG und somit der PKK", schrieb er am Freitag auf Facebook. YPJ-Fahnen sind in Österreich nicht verboten. Die nationalistischen Jugendlichen wiederum seien offenbar tatsächlich organisiert gewesen, "aber vor allem über Instagram und völlig an den türkischen Vereinen vorbei", so Gördü. Im Endeffekt sehe er keinen Sinn darin, einen türkischen Konflikt wie den Kurdenkonflikt in Österreich zu diskutieren.

Einige Diskussionteilnehmer berichteten, bei den Ausschreitungen auch ältere Männer gesehen zu haben, die Jugendliche zu Gewalt angestiftet hätten. Diese müsse man "ausforschen und mit voller Härte des Gesetzes bestrafen", meint Gördü.

Kritik an Jugendamt und Sozialarbeitern

Im Mittelpunkt der Diskussion stand schließlich die Frage: "Wie können wir unsere Jugendlichen wieder erreichen?" Die traditionellen Moscheeverbände würden das nämlich in den letzten Jahren nicht mehr schaffen, so Gördü. Falsch laufe vor allem auch, dass türkische Jugendliche von der Politik vernachlässigt würden, waren sich viele Diskussionsteilnehmer einig. Kritisiert wurde besonders die soziale Arbeit und das Jugendamt in Wien. "Es gibt sehr viele Kindesentziehungen in der türkischen Community, und da gibt es einen großen Unmut über Willkür", sagt Gördü. Viele türkische Jugendliche würden auch negative Erfahrungen in Jugendzentren mit "PKK-affinen" Sozialarbeitern machen, die nicht akzeptieren würden, wenn jemand nicht kritisch gegenüber dem türkischen Präsidenten Erdoğan sei. Dabei seien AKP-Wähler nun einmal die Mehrheit unter den Türken in Österreich. Tatsächlich haben mehr als 70 Prozent bei den letzten Präsidentenwahlen die Erdoğan-Partei gewählt.

"Wir führen natürlich einen Wertediskurs mit den Jugendlichen", sagt Ilkim Erdost vom Verein Wiener Jugendzentren gegenüber dem STANDARD. "Wir reden über demokratische Werte, wir reden über die Gleichstellung von Mann und Frau. Das sehen wir auch als unseren pädagogischen Auftrag." Dass dazu manchmal gehöre, die Wertvorstellungen von Jugendlichen aufzubrechen, sei richtig. Was die Sozialarbeiter aber nicht tun würden, sei "partei- oder geopolitisch Stellung zu beziehen". Dass Jugendliche zum Beispiel temporär nicht mehr in ein Jugendzentrum dürfen, passiere nicht aufgrund von Einstellungen, sondern nur, wenn auf einen Diskurs Beschimpfungen oder gar Handgreiflichkeiten folgen würden.

Was nun?

Als Idee wurde bei der SÖZ-Debatte schließlich diskutiert, Leute aus der Community mit Stipendien zu unterstützen. Die könnten dann soziale Arbeit studieren und später als Streetworker tätig sein. Es brauche Sozialarbeiter, "die keine ideologischen Missionare seien und die Werte der Jugendlichen für nichtig erachten", sagt Gördü.

Eine Idee, der Ilkim Erdost durchaus etwas abgewinnen kann. Es brauche ohnehin mehr migrantische Sozialarbeiter, auch weil "immer noch zu wenige Migranten höhere Bildungsabschlüsse erreichen".

Auch Schmidinger, der selbst auf einer Fachhochschule für soziale Arbeit unterrichtet, glaubt, dass Sozialarbeiter aus der Community dazu beitragen können, die Jugendlichen zu befrieden. Man müsse allerdings aufpassen, dass man es nicht türkischen Nationalisten überlässt – als solchen sieht er Hakan Gördü aufgrund von dessen AKP-Nähe –, die eigenen Jugendlichen zu befrieden. Wenn Menschen mit türkisch-nationalistischen Einstellungen soziale Arbeit studieren, wäre aus der Sicht Schmidingers die Aufgabe der Fachhochschulen, mit ihnen zu arbeiten und etwaigen rechtsextremen Einstellungen etwas entgegenzusetzen.

Weitere Treffen geplant

Gördü – selbst gebürtiger Favoritener – würde sich keinesfalls als AKP-Unterstützer in Österreich bezeichnen, trotz seiner früheren Funktion bei der UETD. Er unterstütze keine türkische Partei, denn er habe jetzt seine eigene, die SÖZ, und die kümmere sich ausschließlich um österreichische Anliegen. "Wenn wir unsere Aufmerksamkeit türkischer Politik schenken, dann vergeben wir die Chance, uns hier in dem Land, in dem wir leben, einzubringen, und das wäre schade", sagt er. Spitzenkandidatin der 2019 gegründeten SÖZ ist übrigens die ehemalige fraktionslose Nationalratsabgeordnete Martha Bißmann.

Dass die Regierung nun die Polizeipräsenz erhöhen möchte, hält Gördü für richtig. Dass es Gespräche mit allen türkischen Vereinen geben werde, wie es die Regierung angekündigt hat, bezweifelt er jedoch. Wenn, dann nur, um Täter zu finden, nicht um sich über Lösungen zu verständigen, meint er. "Obwohl es wichtig wäre, mit den Vereinen zu sprechen."

Veranstaltungen wie die Diskussion am Sonntag soll es in Zukunft jedenfalls öfter geben. Konkrete Forderungen und Ziele, die bei den Diskussionen gemeinsam beschlossen werden, sollen dann auch Wahlversprechen der SÖZ für die Wien-Wahl werden. (Johannes Pucher, 30.6.2020)