Nach einer ersten Überforderung hat die Wiener Polizei die Ausschreitungen zwischen prokurdischen Demonstranten und türkischen Nationalisten doch noch in den Griff bekommen. Aber die Debatte über die üblen Szenen auf den Straßen von Favoriten hat erst jetzt richtig begonnen. Diese Ereignisse werden zum heißen Thema im Wiener Wahlkampf, sie belasten die Beziehungen zur Türkei, sie werfen ein Schlaglicht auf Probleme der Integrationspolitik – und sie berühren für viele die komplexe Frage, was es heißt, in einer zunehmend multinationalen Gesellschaft Wiener oder Österreicher zu sein.

Rund 275.000 Menschen mit türkischem Migrationshintergrund leben in Österreich, weniger als die Hälfte von ihnen mit österreichischem Pass. Das liegt auch an einer immer restriktiveren Einbürgerungspraxis, die wiederum die Integration dieser Menschen erschwert. Egal welche Staatsbürgerschaft sie haben – die große Mehrheit fühlt sich laut unzähligen Studien in Österreich zu Hause. Aber nicht nur: Migranten brechen heute die Verbindungen zur alten Heimat kaum noch ab; fast alle Türken, Serben, Rumänen oder Bosnier pflegen enge familiäre und emotionale Beziehungen zu ihrem Herkunftsland.

In den vergangenen Tagen kam es rund um das Ernst-Kirchweger-Haus in Wien-Favoriten immer wieder zu Angriffen türkisch-nationalistischer und rechtsextremer Gruppen auf linke und kurdische Aktivisten.
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Das gilt auch für die zweite und sogar dritte Generation und ist ein nachvollziehbares Phänomen. Einwanderungsländer sind heute keine Schmelztiegel mehr, nicht einmal Kanada oder die USA. Das liegt auch an der Verfügbarkeit von Satelliten-TV, dem Internet und billigen Flügen. Vielfach überlappende Identitäten sind legitim und führen nicht automatisch zu den berüchtigten Parallelgesellschaften, vor denen von rechter Seite so gerne gewarnt wird.

Türkischer Nationalismus

Bei Menschen mit türkischem Hintergrund kommen noch besondere Faktoren dazu: ihre Herkunft aus oft ländlichen, sehr traditionellen Regionen; der Islam, der in vielen Familien heute eine größere Rolle spielt als noch vor einer Generation; der frühe Ausstieg aus dem Bildungssystem vor allem bei jungen Männern; als Folge die geringen Chancen auf gute Jobs.

Und schließlich mischt ein türkischer Präsident mit, der offen gegen die Integration seiner Landsleute in Europa arbeitet und sie für seine Machtpolitik instrumentalisiert. Gerade in Österreich hat Tayyip Erdoğan viele Anhänger. Diese übernehmen die aggressive Sprache des türkischen Nationalismus – auch gegen die Kurden, gegen die Erdoğan seit Jahren Krieg im eigenen Land und in der Region führt. Die ethnischen Konflikte der Türkei hat er nicht geschaffen. Aber indem seine Regierung sie anheizt, trägt sie die Gewalt nach Favoriten hinein.

Öl ins Feuer gießen auch die heimischen Rechtsparteien, und das schließt die ÖVP mit ein. Die Art, wie Türkis der Wiener SPÖ die Schuld an den Konflikten zuzuschieben versucht, ist selbst in Wahlkampfzeiten ärgerlich. Es gab in Wien über die Jahrzehnte Versäumnisse in der Integration. Aber die Stadt leistet dennoch mit ihrer Wohn-, Sozial- und Jugendpolitik mehr als die meisten anderen europäischen Metropolen.

Simple Lösungen gibt es keine. Österreich kann Erdoğans Einfluss nicht brechen; den Bildungsstatus junger Türken zu verbessern erfordert Knochenarbeit. Auch das neue Islamgesetz von Sebastian Kurz hat wenig gebracht. Die Probleme müssen angegangen, aber sie dürfen nicht aufgebauscht und die Betroffenen nicht ausgegrenzt werden. "Die Türken" gehören heute zu Österreich wie die Burgenländer. (Eric Frey, 29.6.2020)