Film wurde seit Anbeginn als Möglichkeit betrachtet, Wirklichkeit exakt abzubilden. Die Vorstellung vom Bild, das kein Bild, sondern unmittelbare Realität sei, prädestinierte es als wissenschaftliches Instrument. Eadweard Muybridge war einer der ersten, der Bewegungsabläufe fotografisch dokumentierte und sichtbar machte, was dem menschlichen Auge verborgen blieb. 

Wie Jonathan Crary in seinem Buch „Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert“ beschreibt, ging die Erforschung der Wahrnehmung Hand in Hand mit der Entwicklung optischer Geräte (philosophical toys), die bald auf Jahrmärkten, Messen oder in Varietétheatern das Publikum belustigten. Der Mensch als aktiver und autonomer Produzent seiner optischen Erfahrungen und die Anpassungsfähigkeit der menschlichen Wahrnehmung stehen auch im Mittelpunkt des humoristischen Wissenschaftsfilms „Living in a reversed world / Verkehrte Welten“ von 1954.

"Living in a reversed world" (1954).
Foto: Österreichische Mediathek (Filmstill)

Muybridges serielle Bewegungsstudien brachten die moderne Erfahrung der Fragmentierung von Zeit und Raum zum Ausdruck. Seine berühmte Schrankkartenserie „The Horse in Motion“, führte zu neuen Erkenntnissen darüber, wie sich Pferde bewegen. Auftraggeber der Studie war Leland Stanford - Gouverneur, Eisenbahnunternehmer und Rennpferdbesitzer. Der bahnbrechenden Entdeckung folgten zahlreiche weitere Aufträge, so auch die Dokumentation von Arbeitsabläufen auf Plantagen in Mittelamerika. Primär dienten die technischen Bilder als Blaupause für den Taylorismus - Ziel war es durch Rationalisierung, die Effizienz der Produktion zu steigern. Schon diese frühen Serienaufnahmen, die wie ein Film vorgeführt werden konnten, zeigen die verschlungenen Verbindungen zwischen technischem Fortschritt und Forschergeist sowie ökonomischen und politischen Interessen - Tendenzen die auch den österreichischen wissenschaftlichen Film prägen.

Geister des Kolonialismus 

Die Geschichte des wissenschaftlichen Films in Österreich reicht bis zu den Anfängen des 20. Jahrhunderts zurück. Ein Pionier auf diesem Gebiet war Rudolf Pöch, der als Begründer des Institutes für Anthropologie und Ethnografie an der Universität Wien gilt. 1904 bis 1906 unternahm Pöch Forschungsreisen nach Neuguinea, dem Bismarck-Archipel und Australien. Neben einer Plattenkamera und einer Filmkamera führte Pöch auch einen Archivphonographen für Tonaufnahmen mit. Bei einer Reise ins südliche Afrika 1908 entstanden die Aufnahmen eines Sans namens Kubi, wie er in einen Phonographen spricht. Von Kubi ist nicht mehr bekannt als das, was Pöch in seinen Notizen über ihn festgehalten hat: der über 60 Jahre alte Kubi beschreibt auf Ts'aukhoe das Verhalten von Elefanten an den Wasserstellen, die früher in der Ebene das ganze Jahr über voll gewesen seien und erzählt von einem Ereignis, bei dem er einmal beinah von einem Elefanten getötet wurde. Pöch nahm das Audio- und Videomaterial zwar gleichzeitig, aber mit getrennten Geräten auf. Erst 1984 hat der Filmwissenschafter Dietrich Schüller die historischen Filmaufnahmen mit den Tonaufnahmen synchronisiert und neu herausgegeben.

Herr Kubi spricht in den Phonographen (1908).
Österreichische Mediathek (Filmstill)

Die Entstehung des Wissenschaftsfilms und des ethnografischen Films sind eng mit der Wissenschaftsgeschichte der Ethnologie, der Kultur- und Sozialanthropologie verbunden, was ihn zu einem Instrument kolonialer Herrschaftssicherung und Gewalt macht. Ein beliebtes Motiv dieser frühen Filmaufnahmen war die Gegenüberstellung von Individuen der unterworfenen „primitiven“ Gesellschaft und den technologischen Innovationen. Die Aufnahme von Kubi ist, so Michael Loebenstein, Direktor des Österreichischen Filmmuseums „ein Dokument kolonialer Praxis“ – aber auch ein „Akt der Selbstermächtigung“: „Für den Ethnografen Pöch mag Kubi Objekt sein, im Akt der Aufzeichnung wird er jedoch zum Akteur und Subjekt seiner Stimme, seines Bilds und seiner Geschichte.

Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs begann Pöch mit der Untersuchung von Gefangenen aus der russischen Armee in den k.u.k. Kriegs­gefangenen­lagern. Im Rahmen von anthropologischen Reihen-Vermessungen, die Pöch an Kriegsgefangenen vornahm, entstand eine Anzahl von Film- und Tondokumenten die Kultur, Alltag und hand­werk­liche Tätigkeiten in den Gefangenenlagern Eger, Reichenberg und Theresienstadt unter damals gültigen wissenschaftlichen Gesichtspunkten dokumentieren.

Geschichts(um)schreibung 

Der Film als erstes wirkliches Massenmedium, eröffnete politische Möglichkeiten die historisch neu waren. Seine angenommene Wirkmächtigkeit machte das Kino von Anbeginn attraktiv für seine politische Indienstnahme. Vor allem auf der Ebene der Schaffung und Vermittlung von Geschichtsbildern, wurde es früh in die jeweilige Nationalgeschichte eingepasst. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 in Deutschland wurde auch die wissenschaftliche Filmtätigkeit für Propagandazwecke vereinnahmt. Die Dokumentation deutscher Volksbräuche sollte ihren Teil zur „wissenschaftlichen“ Legitimation der NS-Ideologie beitragen - die Überlegenheit des „arischen Volkes“ und der germanischen Kultur belegen und damit letztlich den Krieg und den Genozid historisch legitimieren.

Heinrich Himmler, "Reichsführer SS", gründete zu diesem Zweck 1935 „Die Forschungs- und Lehrgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe“. „Das Ahnenerbe soll die wissenschaftliche Elite eines kommenden SS-Staates sein. Sie ist beauftragt, die Geschichte umzuschreiben, um ihren künftigen Lauf zu beeinflussen“ schreibt Albert Ottenbacher für das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. In Bezug auf die Sammlung des ÖWF sind in diesem Zusammenhang die Aufnahmen von Richard Wolfram zu erwähnen. Als außerordentlicher Universitätsprofessor für „germanisch-deutsche Volkskunde“ an der Universität Wien und Leiter der „Arbeitsgruppe Brauchtum und Volksglauben“ der streng geheimen „Kulturkommission Südtirol“, die sich im Rahmen der Option mit der Umsiedlung der Südtirolerinnen und Südtiroler in das Großdeutsche Reich befasste, drehte er in den Jahren 1940 und 1941 eine Reihe volkskundlicher Filme und schrieb sich in dieses düstere Kapitel der Wissenschaftsgeschichte ein.

Zäunen in Jenesien (1941).
Foto: Österreichische Mediathek (Filmstill)

Der Film „Zäunen in Jenesien“ von 1941 zeigt im ersten Teil eine Reihe von Landschaftsaufnahmen. Im Anschluss wird ein Mann beim Errichten eines für die Gegend typischen „Spelten- oder Spitzzauns“ gezeigt. 

Nach Kriegsende wurde Wolfram wegen seiner weitreichenden Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus die Lehrbefugnis entzogen, die er jedoch bereits 1954 wiedererlangte. Darauf folgten weitere nationale wie internationale Ehrungen und Auszeichnungen, unter anderem wurde ihm 1977 das Österreichische Ehrenkreuz erster Klasse für Wissenschaft und Kunst verliehen.

Das Regelwerk der Encyclopaedia Cinematographica

In den 1950er-Jahren wurde in Deutschland die Encyclopaedia Cinematographica ins Leben gerufen, ein strengen Regeln unterworfenes Großprojekt für die Produktion von Wissenschaftsfilmen. Nach Gründungseditor Gotthard Wolf, bestand die Aufgabe der wissenschaftlichen Filmenzyklopädie „in der Erfassung und Fixierung der wissenschaftlich bedeutungsvollen Bewegungsvorgänge und Verhaltensweisen bei Tieren, Pflanzen, Stoffen und schließlich auch beim Menschen, d. h. um die Herstellung von Bewegungsabbildern für eine Bewegungsphysiologie oder Verhaltensforschung in einem denkbar allgemeinen Sinne“.

Die Herstellung und Sammlung von kurzen monothematischen Sequenzen sollten der Vergleichbarkeit der in den Filmen dargestellten Sachverhalte dienen und schließlich eine enzyklopädische Gesamtheit ergeben. Der Ansatz – „optische Dauerpräparate von Bewegungsvorgängen“ herzustellen – passt aber oft nicht zur Darstellung ethnologischer Sachverhalte. Gabriele Fröschl, Leiterin der Österreichischen Mediathek schreibt im Projekt „Wissenschaft als Film“:„Das Regelwerk war grundlegend für die Produktion von Wissenschaftsfilmen; die Vorgaben waren jedoch nicht für alle Wissenschaftsdisziplinen gleichermaßen geeignet. In den naturwissenschaftlichen und technischen Bereichen leichter umsetzbar, war dieser, den Wissenschaftsfilmen der 1960er Jahre zugrunde liegende Anspruch wissenschaftlicher 'Objektivität' in der Realität vor allem im Bereich der Sozialwissenschaften meist zum Scheitern verurteilt. Die entstandenen Filme waren immer auch ein Konstrukt und keine 'Realitätskonserve', wie konzeptionell gedacht.“

Der Kameramann Said Manafi, der während seiner Zeit am ÖWF bei mehr als 20 ethnologischen Filmen mitarbeitete, erzählt in einem Interview im Rahmen des Projekts Wissenschaft als Film über die Methode und neuen Grundsätzen des ethnographischen Films am ÖWF, die sich den Dogmen der Encyclopaedia Cinematographica entzogen. Vom Film "Timghriwin - Kollektive Erstverheiratungen im Hohen Atlas" aus dem Jahr 1985, gibt es eine 100-minütige „Kinoversion“, die in elf Teile geteilt wurde, um so eine Aufnahme in die Encyclopaedia Cinematographica zu ermöglichen. Tatsächlich wurde aber auch die Langversion aufgenommen. Dem Filmprojekt Timghriwin gelang es, den vollständigen Ablauf des Tamghra-Festes aufzuzeichnen, bevor die Tradition der kollektiven Hochzeit bei den Berbern verschwand.

Wissenschaftshistorische Quellen

Filmmaterial ist vollgestopft mit historischen Fakten und gleichzeitig außerordentlich "gefügig". Seine Geschichtlichkeit und Bedeutung ergibt sich aus dem Kontext der Produktion sowie der Verbreitung als symbolisches Gut. Die Filme der Sammlung des ÖWF decken sowohl ein breites zeitliches (von 1904 bis 1997) wie auch thematisches Spektrum ab: die Schwerpunkte liegen bei europäischer und außereuropäischer Ethnologie sowie Medizin und Biologie, daneben finden sich aber auch Filme aus den Bereichen Chemie, Physik, Technik, Kulturgeschichte, Archäologie, Zeitgeschichte, Architektur, Religion sowie Psychologie.Nach der Schließung des ÖWF übernahm die Mediathek 1999 den Kernbestand des Archivs. Rund 400 dieser Filme sind online abrufbar. 2014 wurden sie in das österreichische „Memory of the World-Register“ aufgenommen. 

Der Filmbestand stellt filmhistorisch aber auch ethnologisch betrachtet eine Besonderheit dar. Aufgrund ihrer Entstehungszusammenhänge geben die Filme Einblick in ein historisches Verständnis von Wissenschaftlichkeit und wissenschaftlicher Arbeit. Durch die Bereitstellung dieser Originalquellen im Rahmen des Projektes „Wissenschaft als Film“ soll die wissenschaftshistorische Bearbeitung mit diesem abgeschlossenen Bestand angeregt und ermöglicht werden. (Marion Oberhofer, 14.7.2020)

Marion Oberhofer ist Kulturjournalistin in Bozen und Wien und bloggt für die Österreichische Mediathek.

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