In manchen Orten in Indien verbrannten Aktivisten ein Foto von Chinas Präsident Xi Jinping.

Foto: EPA/Sanjay Baid

Das Dorf, aus dem Chamba Tseten kommt, gibt es gar nicht. Zumindest nicht auf Google Maps. Es liegt so abgelegen, auf 4.200 Meter Seehöhe, mitten im Himalaja, dass es im Internet nicht eingezeichnet ist. 600 Kilometer von Indiens Hauptstadt Delhi entfernt, sind es nur noch wenige Kilometer bis zur Grenze zum Nachbarn China. Seit über fünf Wochen hat Tseten nicht mehr mit seinen Eltern telefoniert. Er ist akademischer Programmleiter am Himalayan Institute of Alternatives, Ladakh, in der Nähe der regionalen Hauptstadt Leh. Die Verbindungen in seine Heimat sind wegen des Grenzkonflikts tot, Truppen bewegen sich in großer Zahl Richtung Grenze, erzählt er am Telefon: "Die Menschen haben Angst, mehr noch als vor Corona." Fast 50 Jahre lang war es friedlich an der umstrittenen Grenze im Himalaja. Das hat sich nun geändert.

Mitte Juni starben erstmals seit dem Indisch-Chinesischen Grenzkrieg 1962 mindestens 20 indische Soldaten bei Zusammenstößen. Was genau in jener Nacht im Galwan-Tal in der dünnen Luft geschah, ist bis heute nicht klar. China und Indien bestehen darauf, dass kein Schuss gefallen ist. Das unterbinden einige Abkommen, auf die sich die zwei asiatischen Riesen über die Jahre geeinigt haben. Ob es auch auf chinesischer Seite Opfer gab, sagt Peking bis heute nicht.

Dass es zu der tödlichen Eskalation gekommen ist, alarmiert aber Delhi und Peking – und vor allem die Bevölkerung in Ladakh. "Als ich ein Kind war, gab es nichts dergleichen", erzählt Tseten. Die Leute im Dorf haben zwar oft vom Krieg gesprochen. Sein Großvater war damals, wie so viele andere, Träger für die Armee und hat Bunker gebaut. Die Grenze war aber über so viele Jahre nun friedlich.

"Zweites Kaschmir"

Jetzt beschreiben Medien den indischen Bundesstaat als "gefangen zwischen China and Corona". Und als "zweites Kaschmir". So wie zwischen Pakistan und Indien ist auch die 3.500 Kilometer lange Grenze zwischen den Atommächten China und Indien an mehreren Stellen umstritten. So im Osten in Arunachal Pradesh; und auch zwischen Bhutan und Nepal in Sikkim kam es vor kurzem zu einer Konfrontation. Im Westen beanspruchen beide Länder den Aksai Chin und den Siachen-Gletscher (siehe Karte). In Ladakh stehen sich sowohl im Galwan-Tal als auch am Pangong-See weiter hunderte Soldaten gegenüber.

Die umstrittenen Gebiete befinden sich alle in äußerst abgelegenen Regionen. Mal geht es den zwei Ländern ums territoriale Prinzip, oft geht es um geopolitisch wichtige Positionen. Darum versucht China auch schon seit Jahren, seinen Einfluss immer weiter gen Süden auszuweiten. So war das auch 2017 beim Zusammenstoß in Doklam, im Dreiländereck Indien/China/Bhutan. Der Konflikt wurde friedlich beigelegt. Auch bei der aktuellen Eskalation stehen die Zeichen auf friedlichen Rückzug. Doch langfristig stehen sich die Interessen der zwei Atommächte im Weg. Beide wollen sie Kontrolle über so wichtige Wasserquellen in den Bergen. Beide stehen sie unter Druck, ihre Ansprüche zu verteidigen.

Fakten schaffen

China hat in dem Machtspiel lange die Nase vorn gehabt und zum Beispiel im kleinen Nepal über die Grenze hinweg Fakten geschaffen: Peking unterstützt dort etliche Straßen- und Staudammprojekte mit Geld und Personal (siehe auch rechts). Das Land deckt Nepal im jüngsten Kartenkonflikt mit Indien den Rücken: In einer von Nepal veröffentlichten Karte ist der Kalapani-Korridor nicht mehr als umstritten, sondern als Teil Nepals eingezeichnet – ein Affront gegenüber Indien.

Delhi versucht nun in Windeseile, entlang des Himalaja-Hauptkamms aufzuholen. Vergangenen Sommer hat es der Unruheprovinz Kaschmir die Autonomierechte entzogen und aus Ladakh – bisher ein Teil Kaschmirs – einen eigenen Bundesstaat gemacht. Vor allem entlang der Grenze in Ladakh forciert die Regierung nun den Straßenbau. Für das mehrheitlich buddhistische Ladakh war die Trennung von Kaschmir ein Befreiungsschlag. Mit dem Aufbau an der Grenze rückt die fragile Region aber ins Zentrum des Spiels der großen Mächte.

"Boycott China" in Indien

Der Konflikt kommt für die Bevölkerung zu einer Unzeit. Bereits der Corona-Lockdown hat den Tourismus komplett lahmgelegt. Fast die Hälfte der Ladakhis ist davon abhängig. Nun gehen viele Menschen wieder zurück in ihre Dörfer, in die Landwirtschaft, erzählt Tseten. Bis sich der Tourismus erholen werde, werde es Jahre dauern. Anfangs, in den 90ern, waren es vor allem internationale Gäste, die das "Little Tibet" in Indien entdeckten. Seit dem erfolgreichen Bollywood-Film "Three Idiots" kommen aber immer mehr Inder. Der Film hat just am Pangong-See gespielt – dort, wo sich jetzt die Soldaten gegenüberstehen. "Wer weiß", sagt Tseten, "vielleicht macht der Konflikt den See noch bekannter."

Einstweilen sind Straßensperren und Restriktionen an der Tagesordnung, die Stimmung ist erhitzt. Parteien machen Stimmung gegen China: "Boycott China"-Aktionen prägen Geschäfte in Leh, auf Twitter gehen die Anti-China-Gemüter hoch. Am Montag verbot Indiens Regierung 60 chinesische Apps, darunter Tiktok. Dem kann Tseten weniger abgewinnen. "Ich möchte nicht als China-Freund verstanden werden", sagt Tseten, plädiert aber für Dialog. "Wir können unseren Nachbarn nicht ändern und müssen mit ihm auch die nächsten Jahrhunderte leben – das gilt genauso für China. Der beste Weg ist, miteinander zu reden und gegenseitig voneinander zu profitieren." (Anna Sawerthal, 1.7.2020)