Victoire Kpovianou und Thomas Kougbakin haben vier Kinder und zehn Enkel. Vier weitere Kinder sind gestorben.

Foto: Katrin Gänsler

Eugènie Gossa wird von einer Schar Mädchen und Buben umringt. Sie tragen hellblaue Hemden und Blusen und dazu dunkle Röcke und Hosen. Es ist die Uniform der privaten Grundschule Mawukpèhu in Fifadji, einem Viertel der beninischen Hafen- und Wirtschaftsmetropole Cotonou.

Es ist kurz vor 17 Uhr, und die jüngeren Schüler haben Schulschluss. Eugènie Gossa, Direktorin der 1997 gegründeten Schule, ermahnt sie immer wieder dazu, leise zu sein und nicht zu rennen, da in einigen Klassen noch Unterricht ist. Insgesamt hat sie 290 Schüler und Schülerinnen, die sich auf sieben Klassen aufteilen.

Auf die Frage, ob die Grundschule sehr groß sei, lächelt die Leiterin: "Im vergangenen Jahr hatten wir noch mehr." Auch gelten Klassen mit 40 Kindern nicht unbedingt als groß. Anderswo im Land drängen sich weitaus mehr Kinder auf die schmalen Holzbänke.

Dass die Eltern ihre Kinder auf eine private Schule, deren Jahresgebühr zwischen 64 und 90 Euro liegt – das entspricht etwa dem Monatsgehalt eines Wachmanns oder einer Putzfrau –, hat nach Ansicht der Direktorin zwei Gründe: "Die Lehrer an staatlichen Schulen werden nicht vernünftig ausgebildet."

Infrastruktur hinkt Wachstum nach

Doch nicht nur das: Das Bildungssystem platzt schlichtweg aus allen Nähten. Es ist eine Folge des massiven Bevölkerungswachstums. Während Benin im Jahr 1960, als es von Frankreich unabhängig wurde, noch 2,4 Millionen Einwohner hatte, waren es 2018 bereits 11,5 Millionen. Nach Einschätzung einer Studie der EU zur Bevölkerungsentwicklung im 21. Jahrhundert könnten es im Jahr 2030 14,9 Mio. und im Jahr 2060 22,3 Mio. sein.

Weder wächst die Infrastruktur im Bildungssektor mit, noch entstehen ausreichend Krankenhäuser und bezahlbarer Wohnraum. Vor allem in Cotonou, das zwar im westafrikanischen Vergleich ein kleines Wirtschaftszentrum ist, wird der Verkehr in den Hauptzeiten zur Belastung. Mit dem hohen Bevölkerungswachstum von 2,7 Prozent geht außerdem eine Verstädterung des Südens einher.

20 Quadratmeter Wohnfläche

Vor dem winzigen Zimmer von Thomas Kougbakin und seiner Frau Victoire Kpovianou ist am späten Nachmittag nichts von dem Lärm der Autos und Mopeds zu hören. Es liegt an einem Hinterhof in Fifadji, wo ein halbes Dutzend Familien wohnt. Das alte Paar, er ist 70 und sie 65, hat nicht einmal 20 Quadratmeter, die mit Koffern und Plastiktaschen, in denen sie ihre letzten Habseligkeiten aufbewahren, zugestellt sind.

Meistens sitzen sie auf Holzhockern vor dem Wellblechzimmer, da drinnen tagsüber die stickige Luft kaum zu ertragen ist. Thomas Kougbakin hat früher, als Cotonou noch überschaubar war, in der Nähe Landwirtschaft betrieben, Victoire Kpovianou Seife hergestellt und an einem Stand an der Straße Lebensmittel verkauft, wie Millionen Menschen auch.

Gut 90 Prozent der Einwohner arbeiteten nach Angaben der Regierung aus dem Jahr 2015 im informellen Sektor. Gleichzeitig galten 67,2 Prozent aller Arbeitenden als unterbeschäftigt. Eine Rente anzusparen gilt als unmöglich.

Kinder als Garantie fürs Alter

Die Garantie für das Alter sollten die vier Kinder von Thomas Kougbakin und Victoire Kpovianou werden. Doch bis heute geht das Konzept nicht auf: "Sie sind alle nicht so etabliert, dass sie uns etwas schicken könnten. Sie sind selbst noch auf der Suche nach Arbeit und Geld", sagt Kougbakin. Dabei ist der älteste Sohn über 40, und eine der Töchter hat selbst sechs Kinder. Insgesamt zählt das Paar zehn Enkelkinder.

Die Regierung unter Patrice Talon, Präsident seit 2016, spricht zwar immer wieder von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die mit internationalen Geldern und Partnern verwirklicht werden sollen. Es gibt Ausbildungen für Dienstleistungsberufe und Minidarlehen, um sich in der Landwirtschaft selbstständig zu machen.

Doch der Jobmarkt ist überlaufen, und an den Strukturen im Land ändert sich nichts. Dazu kommt die steigende Zahl an Maturanten. Während sich 2007 noch rund 52.500 Schüler für ein Abitur anmeldeten, hat sich die Zahl zehn Jahre später mehr als verdoppelt. Auch Hochschulabsolventen und -absolventinnen haben wenig Perspektiven.

Kindersterblichkeit

Für Thomas Kougbakin und Victoire Kpovianou hat es noch einen weiteren Grund gegeben, weshalb sie lieber mehr Kinder wollten. "Man weiß nie, wie viele überleben." Tatsächlich sind dem Paar vier weitere gestorben. Die Zahl jener Kinder, die vor ihrem fünften Geburtstag sterben, geht zwar weltweit weiter zurück. In Benin lag sie 2018 nach Angaben des Kinderhilfswerks Unicef vor zwei Jahren weiterhin bei 81,7 von 1000 (in Österreich sind es 3,4).

Für Professor Mouftaou Amadou Sanni, Demograf an der Universität Parakou im Norden Benins, ist es ein Argument, das sich zwar hartnäckig hält, aber längst nicht mehr der Realität entspricht. "Heute muss man keine Sorgen mehr haben, dass ein Kind nicht erwachsen wird", sagt er. Auch die Zahl der Kinder sei nicht mehr entscheidend: "Es ist nur wichtig, dass Männer und Frauen ab einem gewissen Alter überhaupt ein Kind haben. Da gibt es Druck. Durch ein Kind steigt das Ansehen."

Dass die Geburtenrate dennoch weiter hoch ist, hängt seiner Meinung nach mit nachlässiger Familienplanung zusammen. Viele Schwangerschaften seien ungewollt, worüber aber nicht gesprochen werde. Auch würden Verhütungsmittel, die in Apotheken frei verkauft werden, mit Misstrauen betrachtet. Mitunter sind sie allerdings auch unerschwinglich.

Nach Einschätzung der Organisation Family Planning 2020 haben 2019 nur 12,4 Prozent aller Frauen moderne Verhütungsmittel genutzt, bei den Verheirateten waren es 13,1 Prozent. 2012 lagen die Zahlen noch bei 7,6 beziehungsweise acht Prozent.

Tabu Sexualaufklärung

Das hängt auch mit mangelnder Sexualaufklärung zusammen, die bis heute ein großes Tabu ist. Erst im Juni 2018 startete ein Pilotprojekt an 60 Schulen zu sexueller Gesundheit. Auch deshalb bleibt die Zahl der Teenagerschwangerschaften hoch, auch wenn dazu landesweit keine Daten vorliegen. Neben viel Spott bedeuten sie oft das Ende der Ausbildung.

Mouftaou Amadou Sanni fordert deshalb, vermehrt Daten zu erheben und Demografie zum Kern einer jeglichen Diskussion über Entwicklung zu machen. "Sie muss das Herz der Debatte sein." Denn nur wenn man über die Bevölkerung Bescheid wisse, könne man auch auf ihre Bedürfnisse eingehen. (Katrin Gänsler, 3.7.2020)

*Die Reportage entstand im März vor dem Coronavirus-Ausbruch. Benin verzeichnet seither 1199 bestätigte Infektionen und 21 Tote (Stand 2.7. 2020). Nach einem Lockdown Ende März öffneten die Schulen Mitte Mai teilweise wieder, es herrscht offiziell Maskenpflicht.