Kinderärztin Waltraud Sattler-Ertl fordert bessere Informationen für Pädagoginnen und Pädagogen wie auch für Eltern zu Corona. Was bisher in Schulen und Kindergärten verteilt worden sei, habe eher verunsichert.
Wie sehr haben viele die Wiederöffnung der Schulen und Kindergärten herbeigesehnt. Als Kinderärztin und Mutter beobachte ich, dass die Quarantäne viele Kinder sehr belastet hat. Mangel an Bewegung und geistiger Stimulation – irgendwann geben auch die motiviertesten Eltern den Kampf gegen das Handy oder die Playstation auf – sowie soziale Isolation zermürben und schüren Ängste. Und jetzt am Beginn der Ferienzeit muss man feststellen: Eltern, Pädagogen wie auch Kinderärzte wurden alleingelassen. Sie mussten mit sinnlosen Vorschriften, die via Schule oder Kindergarten verteilt werden, zurechtkommen.

Beispiele aus dem Ärztinnenalltag:
Frau A bittet um einen dringenden Termin. Eines ihrer Kinder hat Schnupfen. Der Kindergarten hat verlangt, dass sie deshalb sofort ihre beiden Kinder abholen möge. Nach ihr kommt Frau B mit ihren beiden Kindern. Auch hier: zwei Kleinkinder mit leichtem Schnupfen, der gleiche Kindergarten. Dieser hat bereits zwei Gruppen wegen Corona-Verdachts geschlossen.
Frau A muss zu Hause bleiben und ihre eigenen Kinder bespaßen. Frau B hingegen bezahlt aus eigener Tasche erneut dieselbe Babysitterin, um arbeiten gehen zu können.
Frau C bringt wiederum ihre Zweitklässlerin, die etwas Halsschmerzen und eine raue Stimme hat. Laut Weisung des Ministeriums kommt in der Schule die Maschinerie in Gang: Lehrerin daheim, Kind soll Attest bringen. Die Direktion hat eine ellenlange komplizierte Anweisung bekommen, die darauf hinausläuft, dass jedes Schnupfenkind abgeholt und zum Kinderarzt gebracht wird.
Die Kristallkugel
Nun sollen Kinderärzte also ein Attest ausstellen. Nur wie? Allein aufgrund einer klinischen Begutachtung kann die Corona-Freiheit nicht bestätigt werden. Bekanntermaßen können auch die Virusnachweise aus den Mund/Nasen-Abstrichen falsch negativ oder noch nicht positiv sein. Bleibt also nur mehr die Kristallkugel?
In krassem Gegensatz zu jenem schulischen Maßnahmenpaket, von dem wir übrigens erst durch die Patienteneltern erfuhren, stehen die zunehmenden Lockerungsmaßnahmen, die vorgenommen worden sind: Flugzeugfliegen ist erlaubt, in den Schulen fiel die Maskenpflicht, aber was tun mit dem Schnupfenkind?
Ab Herbst werden sich die Infekte wieder häufen. Eltern, Kinder, Kinderärzte, Bildungseinrichtungen, aber auch Arbeitgeber fürchten sich vor einem Totalchaos. Zu Recht. Ich maße mir nicht an, zu entscheiden, ob jedes Schnupfenkind daheimbleiben muss oder in die Schule gehen kann. Die Sommerferien sind eine gute Gelegenheit, den Schulbetrieb besser vorzubereiten. Was es braucht, ist eine auf realen wissenschaftlichen Fakten basierende Vorgangsweise, die von Experten (Epidemiologen, Virologen und Kinderärzte) entwickelt wurde und die bei einer eventuellen Zunahme der Corona-Fälle auch modifiziert wird. Was es nicht braucht, sind Anweisungen, wie sie jetzt an die Eltern verteilt wurdenund die erst recht die Sorgen der Eltern schüren.
Als Teil des Sentinella-Netzwerks zur Erfassung der Grippefälle schicke ich seit Jahren Abstriche an die Virologie – seit dem Lockdown werden diese auch auf Covid getestet. Bisher gab es noch keinen einzigen positiven Corona-Befund, aber reichlich sogenannte Rhinoviren. Kurz: Die Kinder von Frau A und Frau B hatten "gemeinen Schnupfen". (Waltraud Sattler-Ertl, 2.7.2020)