Ein Trauertanz, der in jeder Zeit aktuell bleibt: Damien Manivels Film "Isadoras Kinder" kreist um ein Stück von Isadora Duncan.

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Wer Bücher mag, der kennt dieses Gefühl, gleichzeitig in zwei Welten zu sein. Die Leserin in diesem Film wird von ihrer Lektüre regelrecht absorbiert, ihr eigenes Leben, ihr Freund, die anderen Menschen treten wie Möbelstücke in den Hintergrund – sind da und gleichzeitig auch nicht.

Ihr Buch: Ma vie, Erinnerungen der US-Tanzpionierin Isadora Duncan. Die namenlose Leserin, selbst Tänzerin, ist von der Erzählung eines tragischen Vorfalls gebannt: Duncan verlor 1913 ihre beiden kleinen Kinder bei einem Autounfall. Das Solo mit Klaviermusik, das sie daraufhin schrieb, heißt La mère, die Mutter. Es ist der Versuch, das Ungeheuer dieses Verlusts zu bannen, indem man ihm Bewegungen entreißt. Bewegungen wie das Wiegen der Kinder, die schon in Fleisch und Blut übergegangen waren.

Filmgarten

In Isadoras Kinder (Les enfants d’Isadora) lässt der französische Regisseur Damien Manivel diese Choreografie in drei Anläufen lebendig werden, allerdings in genuin eigensinnigen Aneignungen. Es geht ihm weniger um das Ergebnis einer Interpretation, die dem Stück gerecht wird – entlang Duncans Labanotation, also ihres Skripts –, sondern um den Prozess selbst: Wie lässt sich ein Ausdruck, die Erfahrung unermesslichen Schmerzes, überhaupt übersetzen, und wie viel Persönlichkeit der Darstellerinnen ist in den Umsetzungen jeweils enthalten?

Hypnotische Studie

Im ersten Teil des Films zeigt Manivel, wie die von Agathe Bonitzer gespielte Tänzerin nach Recherchen sich im Alleingang an das Solo heranwagt. Man weiß und erfährt kaum etwas von ihr, aber der Umstand, dass Duncans Bewegungen durch sie wieder lebendig werden und selbst in ihrer Umwelt Nachhall finden, lässt den Film zu einer faszinierenden, seltsam hypnotischen Studie einer Übertragung werden. Da Duncans Worte auch immer wieder aus dem Off eingesprochen werden, mutet die auch filmisch hochpräzise eingefasste Episode immer mehr wie die melancholisch-geisterhafte Reinkarnation einer Trauererfahrung an.

Manivel hat für seinen Film auf dem Filmfestival Locarno letztes Jahr den Regiepreis bekommen. Er war selbst Tänzer, bevor er Filmemacher wurde – der Fokus auf Bewegungsabläufe, die Faszination für die Möglichkeiten des menschlichen Körpers sind geblieben. In seinem minimalistischen, ins Fantastische wippenden Spielfilm Le Parc (2016) genügen ihm eine junge Frau, ihr Freund und ein Kauz von einem Parkwächter, um ein ganzes Repertoire an Gesten zwischen Glückseligkeit, Enttäuschung und Angst aufzuführen.

Jahrhundertalte Gesten

Auch Isadoras Kinder ändert seine Gangart, indem er sich immer mehr von Duncan entfernt, sich den Interpreten zuwendet und damit den universellen Kern der Choreografie herausschält: "Ich habe meinen Tanz nicht erfunden, er existierte lange vor mir. Er schlummerte jahrhundertelang, und meine Trauer hat ihn aufgeweckt", schrieb sie. Im zweiten Abschnitt des Films sehen wir eine Tänzerin mit Downsyndrom (Manon Carpentier), die gemeinsam mit einer Choreografin (Marika Rizzi) das Solo einstudiert – aber man ist auch außerhalb der Probenzeit bei ihr, etwa wenn sie das Klaviermotiv auf ihrem Smartphone nachspielt.

Dass diese Tänzerin andere Ausdrucksfähigkeiten hat als jene davor, ist offensichtlich – und der Punkt. Denn Manivel geht es um die Ausweitung einer künstlerischen Aneignung ins Existenzielle, um die Weitergabe eines Ausdrucks, der eine Art Gemeinschaft schafft. Das wird im dritten Teil offensichtlich, wo es eine Zuseherin ist, die nach La mère so bewegt ist, dass ihr eine Träne herunterläuft.

Verkörpert wird sie von der aus Jamaika stammenden Choreografin Elsa Wolliaston, in deren schwerem Gang nach Hause nicht nur persönliche Verluste nachzuwirken scheinen, sondern auch das kollektive Leid des schwarzen Volkes. Wenn dann daheim eine von Duncans Bewegungen in sie fährt, ist die Grenze zwischen Kunst und Leben endgültig aufgehoben. (Dominik Kamalzadeh, 3.7.2020)