Es gibt gute Gründe dafür, dass dem alten Kontinent Europa nach der Krise die Zukunft gehört, meint Daniel Dettling, Leiter des Instituts für Zukunftspolitik in Berlin.

Die Corona-Krise hat gezeigt, was auf dem Spiel stand: Es drohte der Rückfall in ein Europa der Nationalstaaten mit geschlossenen Grenzen. Europa ist nicht an der Krise zerbrochen, sondern hat sich seiner alten und neuen Stärken besonnen. Das europäische Modell hat sich in der Pandemie als widerstandsfähiger und solidarischer erwiesen. Während die USA auf das Modell "Wohlstand ohne Wohlfahrt" setzen und China auf "Wohlstand gegen Wohlverhalten", heißt der europäische Weg "Wohlstand plus Wohlfühlen". Europa entwickelt mit Corona eine neue geopolitische Identität, auch weil Deutschland seine Interessen in Europa neu definiert.

Schlüsselfrage Gesundheit

Gesundheit wird nach Corona zum Bestandteil der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Gesundheitskrisen überschreiten zunehmend Grenzen und haben das Potenzial, zu wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krisen zu werden. Es geht um die umfassende Resilienz (Widerstandsfähigkeit) von Staaten und Staatengemeinschaften. Die Konsequenz für Europa ist offensichtlich: Der Kontinent braucht mehr Souveränität auch im Gesundheitsbereich. Dazu gehören eine europäische Seuchenbehörde, eine gemeinsame Impfstoff- und Pandemiestrategie, gut ausgebildetes Gesundheitspersonal, öffentlich-private Partnerschaften mit der Industrie sowie der Austausch von Daten und der Einsatz digitaler Lösungen.

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Nicht nur Berlin (Bild), auch andere europäische Großstädte setzen auf das Fahrrad als wichtigstes Verkehrsmittel – zum Schutz des Klimas und zur Stärkung eines weltweit einmaligen Lebensgefühls.
Foto: AP/Michael Kappeler

Der neue Wiederaufbaufonds der EU-Kommission ist dabei ein starkes Signal. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte nimmt die EU selbst Schulden auf und zahlt Gelder nicht als Kredit, sondern als Zuschuss aus. Der Fonds stellt eine 180-Grad-Wende der bisherigen Politik Deutschlands dar, das zum 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernommen hat. Kanzlerin Angela Merkel will ihre Regierungszeit im nächsten Jahr nicht als "schwäbische Hausfrau" beenden, sondern als europäische Staatsfrau.

Mit dem Wiederaufbaufonds unternimmt die Europäische Union einen qualitativen Sprung zur politischen Union. Das über 750 Milliarden Euro schwere Wiederaufbauprogramm ist Ausdruck der neuen Einsicht in die Notwendigkeit, dass nicht nur Gesundheit, sondern auch Wettbewerbsfähigkeit und Solidarität sich nur grenzüberschreitend und politisch organisieren lassen. Vom Binnenmarkt profitieren insbesondere die kleineren Mitgliedsländer in Nord- und Osteuropa. Die bisherigen Kritiker, die "Sparsamen Vier" – Österreich, Schweden, Dänemark und die Niederlande –, werden das Post-Corona-Paket nicht ablehnen können, weil es nicht nur eine politische, sondern auch eine erhebliche ökonomische Rendite abwirft. Für den österreichischen Haushaltskommissar Johannes Hahn kommen Erträge aus dem Emissionshandel, eine europaweite CO2-Abgabe und eine Plastikabgabe infrage. Frankreich fordert zudem eine Digitalsteuer. Die Schuldenlast des Wiederaufbauprogramms würde so in den nächsten 30 Jahren getilgt.

"Sprache der Macht"?

Das historische Wiederaufbauprogramm und eigene Steuern markieren einen qualitativen Sprung für die Union. Kann Europa die "Sprache der Macht" (Ursula von der Leyen)? Dafür muss die EU über ihren Schatten springen und selbst Hegemon werden. Während China sein Modell des "autoritären Kapitalismus" als angeblich überlegene Alternative zur freiheitlichen liberalen Demokratie vorantreibt und die USA auf das Modell des "monopolistischen Kapitalismus" setzen, kann Europas Antwort nur in einer Weiterentwicklung seines Modells der sozialen Marktwirtschaft bestehen. Für die Mehrheit der Menschen außerhalb der europäischen Grenzen ist Europa heute die attraktivste Region der Welt. Nicht nur für Investoren, sondern auch für Touristen und Talente. "Welfare and wellbeing" (Wohlfahrt und Wohlfühlen) ist sein Erfolgsmodell.

In der Welt nach Corona geht es für Europa darum, Demokratie, Digitalisierung und Dekarbonisierung zu einer neuen Machtpolitik zu verbinden. Noch befinden sich fast alle der in Europa genutzten Daten auf US-amerikanischen oder chinesischen Servern. Die neue Kommission will die Themen Digitalisierung und Dekarbonisierung der Wirtschaft zum zentralen Ziel für den Wiederaufbau der Wirtschaft nach der Pandemie machen.

Mit einem "Green Deal" soll Europa ökonomisch wettbewerbsfähig und ökologisch nachhaltig werden. Eine CO2-Grenzsteuer und eine stärkere Besteuerung digitaler Plattformen würden die Transformation hin zu einer klimaneutralen und digitalen Wirtschaft in Europa beschleunigen. Dazu gehören dezentrale Energienetze, autonome, energieeffiziente Fahrzeuge und eine neue Kreislauf- und Wasserstoffwirtschaft. Digitalisierung und der "Green Deal" werden zur neuen europäischen Wachstumserzählung im 21. Jahrhundert und zum Ausgangspunkt für die künftigen Deals zwischen Europa, China und den USA.

Europa als "best place to be"

Vor 15 Jahren hat der US-Ökonom Jeremy Rifkin den langsamen Tod des Amerikanischen und das Entstehen eines Europäischen Traums prognostiziert. Corona hat die Verwirklichung dieses Traums beschleunigt. Pandemie- und Klimaschutz und der wirtschaftliche Aufbau werden zum gemeinsamen europäischen Projekt. Europa wird zum "best place to be": freier als China und solidarischer als die USA. (Daniel Dettling, 3.7.2020)