Die Literatur eilt mit ihrem Wissen immer der Zeit voraus. So wird ein Roman, der vor einem Dreivierteljahrhundert in den USA Furore machte, gerade wiederentdeckt: Die Straße, das Debüt der 1997 gestorbenen afroamerikanischen Autorin Ann Petry, legt wie für heute geschrieben die Abgründe von Ausgrenzung und Erniedrigung bloß, denen Schwarze durch Rassismus und Sexismus in den USA noch immer ausgeliefert sind.

Petrys Roman gibt einen eindringlichen Einblick in die Geschichte der US-Rassenkonflikte.
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Damals, Mitte der 40er-Jahre, schickte Petry ihre weibliche Hauptfigur Lutie Johnson samt ihrem achtjährigen Sohn Bubb ins Herz des Elends der Schwarzen, nach Harlem, das noch immer von den Folgen der Weltwirtschaftskrise gezeichnet war. Dort, in der 116th Street, sucht die junge Frau Zuflucht vor den Folgen ihrer gescheiterten Ehe und der erniedrigenden Erfahrungen als schwarzes Hausmädchen im Dienst reicher Weißer.

Wie eine Löwin kämpft Lutie für sich und ihren Buben, um ein Leben unabhängig von Geldnot und Demütigungen erreichen zu können. Immer wieder wird sie vom Gedanken weitergetragen: Ich darf meinen Sohn nicht hier in dieser trostlosen Umgebung aufwachsen lassen. Ich muss alles tun, um aus dieser Straße wegzuziehen!

Privileg der weißen Geburt

Doch wer nicht das Privileg der weißen Geburt genossen hat, bleibt im Kreislauf von Aussichtslosigkeit und Diskriminierung gefangen. Als mut- und kraftlos erweist sich das Dasein im vermüllten Quartier. Den Männern, sofern sie nicht unaufhebbar arbeitslos sind, stehen bestenfalls Jobs als Tellerwäscher, Türsteher oder Lastenträger zur Verfügung. Mehr würde das Leben ihnen nicht bieten.

Ann Petry, "The Street. Die Straße".Aus dem amerikanischen Englisch von Uda Strätling. € 24,70 / 383 Seiten. Nagel & Kimche, Zürich 2020
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Die Begegnungen mit der Polizei, die Lutie beobachtet, sind jedes Mal von unflätigen Bemerkungen begleitet. "Besoffene Nigger", mault ein Cop und spuckt auf den Boden des Wohnzimmers. Zu den niederdrückendsten Erfahrungen im Elendsquartier von Harlem gehört für die attraktive Lutie der Sexismus der Männer. Ob schwarz oder weiß, alle betrachten sie als verfügbar. Der Hausmeister bedrängt sie bis hin zur versuchten Vergewaltigung. Desgleichen ein Musikmanager. Und seit der Mafiaboss der Straße ein Auge auf Lutie geworfen hat, ist sie ihrer Freiheit nicht mehr sicher. Ann Petry, die auch Apothekerin war, beschrieb als Harlem-Zuzüglerin aus persönlicher Kenntnis die sozialen Realitäten der amerikanischen Machtverhältnisse und wies mit beharrlicher Erzählkunst auf die fundamentale Abwertung der schwarzen US-Bürger hin.

Wie eine antike Tragödie lässt Petry das Schicksal der Protagonistin und ihres Sohnes abrollen. Meisterlich beherrscht die Erzählerin die Techniken des Wechsels von Perspektiven und Chronologie wie auch das Einblenden scheinbar nebensächlicher Handlungsdetails. Mit ihren scharf umrissenen Figurenzeichnungen führt sie dem Leser schillernde Charaktere voll ambivalenter Haltung vor Augen.

The Street war bei seinem Erscheinen 1946 ein Sensationserfolg mit Millionenauflage. Auf Deutsch bietet der Roman heute, in der einfühlsamen Neuübersetzung von Uda Strätling und mit einem klugen Nachwort von Tayari Jones, einen lange nachwirkenden Einblick in die Hintergründe des US-Rassenkonflikts und seiner anhaltenden Folgen. (Oliver vom Hove, 4.7.2020)