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Scarlett O´Hara (Vivien Leigh) mit Mammy (Hattie McDaniel), die als erste PoC einen Oscar für ihre Rolle in der Verfilmung von "Gone with the Wind" bekam.
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Er fragte, was sie denn lese. Sie sagte, sie würde gern in Ruhe arbeiten. Dann explodierte die Sache, und ich hörte mit, wie sich das Schreiduell innerhalb kürzester Zeit auf zwei Wörter reduzierte: "Sexist!", schrie sie (weiß), "Racist!", schrie er (schwarz). Nächstsitzende Zeugen rekonstruierten den Annäherungsversuch für die Securityleute der Central Library von Los Angeles, die diesen cartoonartigen Streit schlichteten.

Zwei Schlagwörter: So scharf geschnitten sind die Diskursschablonen mittlerweile. Hier twittert der Recke der Weißheit in Washington, dort heuern Verlage "sensitivity readers" an, Sensibilitätslektoren, die Manuskripte auf potenzielle Kränkungen von Minderheiten abklopfen. Das alles sind Spätfolgen dessen, einmal eine Kolonialmacht gewesen zu sein; die Frage, wen die Altvorderen auf dem Weg nach Westen niederschossen (mit dem Recht ausgestattet, Waffen zu tragen), auf wessen Rücken der Wohlstand gründet, schwelt weiter, mit allen Konsequenzen.

Leicht maskierter Rassismus

1861 erklärten sich die Südstaaten unabhängig, um ihr Geschäftsmodell zu verteidigen, die Großproduktion von Baumwolle, ehrfürchtig "King Cotton" genannt. Das war damals nicht zu bewerkstelligen ohne den Einsatz billigster Arbeit, der bloß den Erhalt gehorsamer Körper kostete: Sklaven. Selbst George Washington hatte im Jahrhundert zuvor Zähne von Sklaven getragen, gegen minimale Bezahlung. Fremde, schwarze Körper waren in erster Linie Ressource, bis heute wirkt diese Verachtung nach, nicht zuletzt in Form exzessiver Polizeigewalt.

Bis heute wirkt auch der Sezessionskrieg nach, werden Konföderiertenflaggen geschwenkt, stellen Kostümierte die großen Schlachten nach. "The Cause" mit großem C, der Kriegsgrund, war in diesem Weltbild schlicht die Verteidigung der Souveränität gegenüber der föderalen Übergriffigkeit des Nordens.

Im Jahr 2017 nannte eine Studie der Anti-Rassismus-NGO Southern Poverty Law Center die beklemmende Zahl von 92 Prozent: Dieser Anteil US-amerikanischer Schüler wisse nicht, dass der Bürgerkrieg um die Sklaverei geführt wurde. Der Zustand öffentlicher Schulen erinnert sowieso mancherorts an alle möglichen Länder, nur nicht an die "führende Nation des Westens" – in Ohio zum Beispiel schließen laut Berichten des New Yorker manche Schulen freitags, um Heizkosten zu sparen, und eine Freundin, die im Süden von Georgia unter richtet, erzählt von nur leicht maskiertem Rassismus.

Damit kommt dem Entertainment vermehrt die Aufgabe zu, Geschichtswissen zu vermitteln, und damit landen wir bei Gone with the Wind, dem Südstaatenepos, das seiner Autorin Margaret Mitchell 1937 den Pulitzer-Preis bescherte und seiner Verfilmung von 1939 sowohl Oscarregen als auch hartnäckiges Nachleben bis heute, inklusive Scarlett-Barbie und Simpsons-Folgen.

Eine notwendige und bissige Romanparodie, The Wind Done Gone von Alice Randall, erzählt die Handlung aus Sicht einer Sklavin. Auch Kleinigkeiten wirken fort: Mein Freund, ein Rocker vor dem Herrn, spitzte beim Fernsehmarathon die Ohren, als Scarlett mit "Great Balls of Fire!" fluchte, und die Macher von Disneys König der Löwen kannten sicher ihren dramatischen Schwur: "I’ll never go hungry again!"

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Queen Latifah, Hip-Hop-Königin, die den Sprung zum Film geschafft hat, verkörpert Hattie McDaniel in der Netflix-Serie "Hollywood".
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Nun hat Gone with the Wind das Problem, dass eine Nation, die schlampig gebildet ist, auch schlampig liest. Ja, das Buch schildert den Sezessionskrieg aus Sicht ehemaliger Plantagen- und damit Sklavenbesitzer. Ja, die Lektüre fühlt sich über weite Strecken an wie Schläge in die Magengrube, und eine Ahnung des prinzipiellen Hasses auf "die Yankees" wird überdeutlich. Der spezifische Rassismus der Zeit, wie Mitchell sie schildert, zeigt sich in paternalistischer Attitüde: Schwarze, so die Logik, seien wie Kinder, man müsse sie gut behandeln, dann könne man sich ewig auf sie verlassen. Ja, das ist widerlich. Nur: Der Roman ist wesentlich subtiler als all das, was heute noch weißen Suprematisten zum Aufgeilen dient. Neben seinen starken schwarzen Figuren schildert er eine zutiefst frauenverachtende Welt, nicht zuletzt rächt der Ku-Klux-Klan Übergriffe auf weiße Frauen deshalb, weil sonst die Schande der Lady vor Gericht öffentlich würde – da müsste man die Lady vorher erschießen.

Neuübersetzung und stimmige Dialoge

Manchmal scheint es, als legte Mitchell, die in der Segregationszeit schrieb, ihrer komplexen Antiheldin Scarlett gezielt kritische Äußerungen in die Gedanken, etwa die Sicht auf das überhöhte Gedenken als Fetisch der Kriegs witwen. Die Neuübersetzung von Andreas Nohl und Liat Himmelheber erkennt überdies Mitchells Ohr für Sprachfärbungen. Statt des ungrammatischen Stotterns, mit dem in der Übersetzung von 1937 Mitchells virtuose Wiedergabe des Black Vernacular, der schwarzen Varietät des US-Englisch, verstümmelt wurde, lesen wir jetzt – in einer übrigens gut kommentierten Ausgabe – stimmige Dialoge der schwarzen und auch anderer Figuren, die in ihrer vielfältigen Abstammung die Miniglobalisierung der Südstaatenwelt illustrieren.

Um all das zu schätzen, bräuchte man halt ein Mindestmaß an leserischer Intelligenz – statt einer haarsträubenden Verwechslung von Figurenrede mit Eins-zu-eins-Gehalt. Der vermeintlich direkten Betroffenheit wird in den USA mit Abwehr bis hin zur Zensur begegnet, das absurdeste Beispiel ist der Roman Beloved der afroamerikanischen Nobelpreisträgerin Toni Morrison, in dem eine auf der Flucht aufgegriffene Sklavin ihr Kind tötet. Seit 2007 wurde er an fünf US-Schulen verboten. War um? Sex und Rassismus.

Margaret Mitchell, "Vom Winde verweht". Neuübersetzung von Andreas Nohl und Liat Himmelheber, € 38,– / 1328 Seiten. Kunstmann-Verlag, 2020
Katharina Tiwald, geb. 1979, ist Autorin. Sie studierte Sprachwissenschaften und Russisch in Wien, St. Petersburg und Glasgow, seit 2005 erschienen mehrere Erzählbände und Theaterstücke. "Macbeth Melania" ist ihr temporeiches Romandebüt, das gerade erst im Milena-Verlag erschienen ist.


Dieselbe Scheinfürsorglichkeit lässt sich nun, da der Mord an George Floyd weltweite Schockwellen ausgelöst hat, in der Produktplatzierung von US-Firmen erkennen.

Politische Verfasstheit der USA

Während in Österreich ein Schnittenhersteller einen gewissen Herrn Sellner daran erinnerte, dass die Herzen aller Menschen innen rosa sind, kündigte der US-Sender HBO an, Gone with the Wind aus dem Streaming zu nehmen, "vorübergehend", um ihn mit "Kontext" zu versehen. Ein cleverer Schachzug, ganz Europa schrieb darüber.


"Kontext" gäbe es indes genug. 2014 stattete Warner Bros. die Anniversary-Box des Films mit einer eigens produzierten Doku aus: "Old South, New South" ist auf Youtube anzuschauen, erklärt klipp und klar, dass es die Sklaverei war, um die gekämpft wurde, und bietet der Konsumentin auch noch die Möglichkeit, sich mit der Lektüre der Forumkommentare eine Lektion in der politischen Verfasstheit der US-Gegenwart zu gönnen.

HBO gibt sich lieber als gütiger Herrscher über den Content, statt eine Chance ganz anderer Art zu nutzen. Netflix macht das klüger, stellt in der Miniserie Hollywood Hattie McDaniel (gespielt von der US-Rapperin Queen Latifah) ins Rampenlicht und zeigt sie sowohl politisch bewusst als auch die lesbische Liebschaft genießend, die man ihr schon zu Lebzeiten angedichtet hat.

Es war die Rolle der Sklavin Mammy in Gone with the Wind, für die McDaniel 1940 mit einem Oscar ausgezeichnet wurde, nachdem Produzent David O. Selznick sie unter Nachdruck ins segregierte Ambassador Hotel in Los Angeles geschleust hatte. Sie saß hinten, mit ihrem weißen Agenten, und bekam ihren Preis von einer sichtlich stolzen Fay Bainter, die von der Freiheit sprach, eine Person gleich welcher Rasse für ihre Leistungen zu ehren. Hattie McDaniel ihrerseits kamen auf dem Podium die Tränen, als sie sagte, sie werde ihrer Rasse und der Filmindustrie alle Ehre machen.

Die Filmindustrie ihrerseits hat ihr die Ehre, sie in anderen Rollen als der des Dienstmädchens zu zeigen, verweigert. Offenbar macht Komplexität Angst. Auch Mitchell hat, wiewohl ihr Opus an die 1000 Seiten dick ist, auf manches verzichtet: Sie hätte Dr. Roderick Badger erwähnen können, Sohn einer Sklavin, der in Atlanta bis 1859 schwarze und weiße Patienten in seiner Zahnarztpraxis betreute. Oder die schwarzen, freien Farmer, die ihrerseits Sklaven besaßen.

Dennoch ist unvergessen, welchen Stolz Mammy an den Tag legt: "Ah is free", lässt sie Scarlett wissen: "Ich bin frei." "Ah is free" – auch ein Statement mit dem Zeug zur Komplexität. Es ist nicht überliefert, ob Scarlett O’Hara darauf eines ihrer vielen Brandygläser geleert hat. Wenn ja, ich würde gern anstoßen mit ihr, über die Zeiten hinweg. ((Katharina Tiwald, 4.7.2020)