Es ist wie mit den Holzwürmern. Bloß sind es diesmal nicht die Larven des Anobium punctatum, die sich durch Omas Biedermeierkommode fressen, sondern Mitarbeiter der Caritas und der Stadt Wien sowie Transitarbeitskräfte des AMS, die sich durch leerstehende Abbruchobjekte arbeiten und an Baustoffen und intakten Produkten retten, was noch zu retten ist, bevor die Baggerschaufel gierig zuschnappt und die Abrissbirne das erste Mal gegen die Außenmauern knallt.

"Früher wurden alte Häuser abgerissen, indem man alles zerkleinert und zerschlagen und danach abtransportiert hat, um auf dem Mistplatz noch ein paar wertvollere Stoffe aus dem Schuttberg herauszuklauben", erzählt Thomas Romm, Chef des Wiener Architekturbüros Forschen Planen Bauen sowie Gründer des 2015 ins Leben gerufenen Projektkonsortiums Bau karussell. "In vielen Fällen wird das heute immer noch so gehandhabt, aber erfreulicherweise gibt es immer mehr Projekte und Initiativen, wo bereits im Vorfeld wertvolle Baustoffe gezielt aus dem Haus gewonnen werden, um erstens Kosten zu sparen und zweitens die Menge an Bauschutt und Sondermüll zu minimieren." Kreislaufwirtschaft nennt sich das im Fachjargon.

Das ehemalige Rechenzentrum neben dem Wiener Rathaus diente dem Baukarussell als Baustoffbank...
Foto: Stephan Huger

Zu den ersten Abbruchhäusern, die sich das Baukarussell auf diese Weise vorgeknöpft hat, zählen die ehemalige Reininghaus-Brauerei in Graz, das Coca-Cola-Werk an der Triester Straße in Wien-Favoriten sowie das 1980 von Harry Glück errichtete Rechenzentrum der Stadt Wien im Schatten des Wiener Rathauses – besser bekannt als "Glaspalast", an dessen Stelle sich nun die neue, kürzlich bezogene Buwog-Zentrale von Schuberth und Schuberth Architekten befindet. Die Logistik, die sich hinter den Rückbauaktionen des Baukarussells befindet, ist gewaltig, doch der Output in knallharten Zahlen spricht für sich.

Nachhaltigkeit in der Bauwirtschaft

Hätte man das gesamte Abbruchmaterial der Coca-Cola-Werkshalle, wie dies ursprünglich vorgesehen war, ins Prajo-Böhm-Recyclingwerk nach Himberg gefahren, rechnet Romm vor, hätte man für die Baumaschinen und die tausenden Lkw-Fuhren rund 55.000 Liter Diesel benötigt. "Doch wir haben vorgeschlagen, die Bauteile direkt vor Ort zu sortieren, zu zerkleinern und den Betonbruch für den Straßenunterbau zu verwenden. Dadurch haben wir nur 6000 Liter Diesel benötigt. Das ist eine Einsparung um 89 Prozent!" Wenn man von Nachhaltigkeit in der Bauwirtschaft spreche, meint der Zahlen-Aficionado, dann führe an solchen Maßnahmen kein Weg vorbei.

Noch einen Schritt weiter ging das Baukarussell beim Rechenzentrum (siehe Fotos). Drei Monate vor dem geplanten Abbruch hat sich ein Team aus Bauingenieuren und Abbruchspezialisten durchs Haus gearbeitet, um aufzulisten, wo wertvolle, wiederverwertbare Baustoffe und Bauprodukte im Gebäude lauern: Türzargen, Doppelböden, Reflektoren aus eingebauten Leuchtstofflampen, sortenreines Aluminium, Aluguss und Kupferdrähte. "In einem handelsüblichen, aufgeständerten Doppelboden sind meist drei bis vier verschiedene Metalle verbaut", so Romm. "Vieles davon ist wertvoll und kann nach der Demontage – statt auf dem Sondermüll zu landen – wieder eingeschmolzen und in den materiellen Kreislauf rückgeführt werden."

...durch die Gewinnung von Metallen aus Doppelböden und Wänden konnte ein Erlös von 50.000 Euro erzielt werden.
Foto: Harald Jahn

Nach wochenlanger Recherchearbeit, Excel-Listen-Erstellung und sortenreiner Demontage konnten Materialien im Gegenwert von rund 50.000 Euro geborgen werden. Romm: "Doch das ist nur ein theoretischer Erlös, denn der Betrag wurde 1:1 in die Arbeitsleistung der Bauarbeiter investiert. Ausgezahlt hat sich der Aufwand dennoch: Einerseits hat das Modell eine soziale Komponente, indem Transitarbeitskräfte, die in AMS-Programmen eingesetzt werden, wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden können, andererseits sind viele Abbruchelemente durch unsere Vorarbeit bereits vorsortiert, wodurch sich wiederum Zeitaufwand, Abbruchvolumen und Tonnage reduzieren. Das macht den eigentlichen Abbruch um ein paar Prozent billiger."

Foto: Thomas Ledl / Creative Commons
Foto: Thomas Ledl / Creative Commons
Foto: Thomas Ledl / Creative Commons

In der Mariannengasse, Wien-Alsergrund, wo mehrere ehemalige Wohn- und Bürohäuser von der Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) in den kommenden Jahren zum 35.000 Quadratmeter großen Med-Uni-Campus umgebaut werden sollen (DMAA Delugan Meissl Associated Architects und Architektur Consult) war das Baukarussel mit seinen AMS- und Caritas-Mitarbeitern insgesamt sechs Monate am Werkeln. Zwischen Oktober 2019 und April 2020 konnten auf diese Weise 13 Tonnen Material zum Re-Use sowie fast 50 Tonnen zum Recycling gewonnen werden. Das Ganze im Ausmaß von 3800 sozialwirtschaftlichen Arbeitsstunden.

Tropfen auf den heißen Stein

Auch andernorts wird bereits eifrig an der Optimierung der Kreislaufwirtschaft gearbeitet. Zu den bekanntesten Initiativen zählen der Urban-Mining-Kataster der Ressourcen Management Agentur (RMA), das Programm Circular City Vienna sowie das EU-Projekt BAMB 2020 (Building as Material Banks). Hinzu kommen Pioniere wie etwa Bauteilnetz, Harvest Map oder die Materialnomaden, die sich darauf spezialisiert haben, aus Abbruchhäusern Fenster, Türen, Parkettböden, Liftkabinen, Stiegengeländer und Großküchen auszubauen und im Kreislauf zu halten.

"All diese Maßnahmen sind vorerst noch Pilotprojekte, die Großhändler, Metallbetriebe und einen exotischen Raritätenmarkt für Spezialisten bedienen", sagt Robert Lechner, Leiter des Österreichischen Ökologie-Instituts. "Auf den gesamten Bausektor bezogen ist das nicht einmal ein Tropfen auf den heißen Stein. Aber es ist ein Anfang, und in der Forschung und Entwicklung ist Österreich europaweit vorne mit dabei." Der größte Hemmschuh im ganzen Prozess? "Eindeutig die Baugesetzgebung. Bis wann sprechen wir von Baustoffen? Und ab wann müssen wir etwas als Abfall definieren? Hier sehe ich rechtlich noch einen großen Hebelarm, um Re-Use und Recycling wirklich zukunftsfähig zu machen." (Wojciech Czaja, 05.07.2020)