Heute, am 4. Juli, begehen die USA ihren Nationalfeiertag. Auch in der Literatur präsentiert sich die Nation gespalten.

Amerikas Mythen sind bekannt. Erfunden hat sie der Filmregisseur John Ford, zusammen mit dem Drehbuchautor Frank Nugent und den Kameramännern Bert Glennon (Stagecoach), William H. Clothier (The Alamo) und Edward Hoch (The Searchers). Erzählt hat sich Amerika die Epen eines Wilden Westens mit seinen Atavismen, Anachronismen, Helden ausdauernd selber.

Téa Obreht, 1985 in Belgrad geboren, im Alter von zwölf Jahren mit ihrer Familie in die USA ausgewandert und 2011 Autorin des Weltbestsellers Die Tigerfrau, hat sich einige Jahre Zeit genommen, um in ihrem Zweitling die Mythen des US-Herzlandes gegen den Strich zu bürsten.

Auch der Westen war multikulturell. Erst recht der amerikanische Wilde Westen. Das erfährt Lurie Mattie, in Mostar geboren, als Kind mit seinem Vater via Istanbul nach New York gekommen, rasch verwaist und immer weiter nach Westen getrieben. Er schließt sich einer Kamel-Kompanie der US Army an – eine solche gab es tatsächlich –, wird zum Dieb, zum Mörder, zum per Steckbrief Gesuchten.

Parallel dazu erzählt Obreht die Geschichte von Nora Lark, die auf einer Farm in Arizona auf ihren Mann wartet, vergeblich, wie sich herausstellt. Er wollte den Wasser-Transporteur ausfindig machen. Denn ihnen fehlt dringend Wasser.

Lark ist Journalist, Verleger und Drucker einer Lokalzeitung, die ein Rancher aus dem Wege geräumt wissen will. Dann verschwinden Noras Söhne, sie ist ganz auf sich allein gestellt. Und umzingelt von Ängsten, Durst, Not und Sehnsucht.

Von großer Magie ist dieses Buch. Und das nicht nur, weil Lurie, wie sich am Ende herausstellt, das Gros seiner Erzählung als Leichnam seinem Kamel Burke ins Ohr flüstert. Sondern weil die Figuren, vor allem Nora, sehr plastisch werden, in ihren Stärken, ihren Schwächen, in den ihnen eingeschriebenen politischen Dimensionen.

Hedonistisches Leben

Auch die Frau, um die Jami Attenbergs Roman Nicht mein Ding kreist, ist stark. Oder will es zumindest sein. Das Besondere an Attenberg, die aus Illinois stammt und nach achtzehn Jahren in New York 2017 nach New Orleans übersiedelte, ist: Sie wagt mit jedem Buch etwas anderes. Und etwas Neues. Nun erzählt sie von Andrea, 39, New Yorkerin, in der Werbung tätig, einst Künstlerin, die ihre Träume aufließ. Durch ihr hedonistisches Leben begleiten wir die Frau mit dem losen Mundwerk. Die sacht neurotische Single-Frau, in Therapie, zumindest auf dem Papier Jüdin, die dank des ungeliebten Bürojobs ihre Studiengebühren abbezahlen konnte, ist mittlerweile umzingelt von Leuten in ihrem Alter, die geheiratet haben, von jungen Familien, deren Leben tektonisch verfugt ist. Inklusive Umzugs in die Vorstadt oder aufs Land.

Ihr eigenes Gefühlsleben? Wüst. In der Regel Speedsex mit Losern. Oder armen Künstlern. Oder armen Losern. Das ist böse, sehr lustig, auch deprimierend trist, etwa die todkranke Nichte, die zerfallende Ehe ihres Bruders. Am Ende ist die Fallhöhe der Komik in die Tragik kunstvoll groß.

Crosby, Maine. Ein kleines ruhiges Städtchen in der Provinz. Dort siedelt die 1956 geborene Elizabeth Strout ihr neues Buch an. Die Hauptfigur Olive Kitteridge kennt man aus Olive Kitteridge, Strouts preisgekröntem Band aus dem Jahr 2007. Dieser war mehr Short-Story-Reigen denn dichtgewobenes Kleinstadtpanorama und wurde 2014 auch fürs Fernsehen adaptiert.

Nun ist die Dramaturgie noch fließender und raffinierter. Man gleitet lesend durch rund zwölf Jahre, den letzten Lebensabschnitt der pensionierten Schullehrerin Olive Kitteridge, die undiplomatisch ist und immer unverblümt ihre Meinung äußert. Jedoch ist sie keineswegs die dominante Protagonistin des Romans, auch wenn es späte Liebe gibt, eine zweite Heirat, Kontakte zu Kindern und Familie, die locker bis neutral werden – und dies emotional eigentlich schon immer waren –, dann Witwenschaft, Übersiedelung in ein Pensionistenheim, körperliches Wehleid, physische Gebrechen und Gebrechlichkeit.

In einem Dutzend Kapitel treten mehr als ein Dutzend Figuren auf und ab, sensibel, zerbrechlich, scheiternd, verzweifelt, kaltschnäuzig, und alle sehr sterblich. Man liest mit Die langen Abende als einen großartigen Roman voller Witz und Verve über Leben, Altern, Vergehen der Zeit, Vergehen der Gefühle.

Um Vergänglichkeit geht es auch in Katya Apekinas Roman Je tiefer das Wasser, der in den USA Furore machte. Die sehr gut übersetzte Ausgabe hat der Suhrkamp-Verlag mit einem ästhetisch grotesk verunglückten Schutzumschlag versehen.

Dabei ist das Erstlingswerk der in Moskau geborenen und mit drei Jahren nach Los Angeles übersiedelten Autorin bemerkenswert. Die kaleidoskopische Dramaturgie ist quasi automotorisch – sie treibt sich in kurzen Erinnerungs- und Erzählvignetten mit großer Dynamik selbst an. Mae und Edith sind 1997 16 und 14, nach zwölf Jahren Absenz tritt ihr Vater Dennis, ein erfolgreicher Autor, wieder in ihr Leben, nimmt sie nach New York mit, in New Orleans ist ihre Mutter Marianne als Borderlinerin in die Psychiatrie eingeliefert worden.

Dennis Lomack ist eine halbe Generation älter als die von ihm geschiedene Marianne. Seine Bücher zehren von Erlebnissen und Erfahrungen als junger Student auf den "Freedom Rides", als er und andere Weiße wie Schwarze im tiefen Süden für das Ende der Rassendiskriminierung und die Gleichberechtigung der Afroamerikaner kämpften.

Mae ist ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, es entspinnt sich zwischen ihr und ihrem Vater ein Tabu überschreitendes Spiel um Gefühle und nachgestellte Gefühle. Resultat: ein verheerender Brand. Edith ihrerseits rebelliert, flieht, holt ihre Mutter aus dem Spital, die dann am Mississippi verschwindet.

15 Jahre später sind die Schwestern wieder emotional eng verbunden, Edie ist schwanger, Mae erfolgreiche Videokünstlerin, die ihre Vater-Traumata aufarbeitet. Um Erinnern, Erinnerung und Re-Arrangement des Gedächtnisses kreist dieses zarte, harte, aufwühlende, hochsensible gelungene Buch.

Das Ende der Kindheit

Auch der Roman Die Berglöwin aus dem Jahr 1947 von Jean Stafford (1915–1979) ist um zwei Kinder aufgebaut. Molly ist acht, Ralph zehn, als sie in den 1930er-Jahren sommers aus einem Vorort von Los Angeles nach Colorado geschickt werden, zu einem Onkel, der eine Farm besitzt. Die zwei sind einsam, überaufmerksam und umzingelt von Erwachsenen, die sich demütigen, verletzen, Komödien aufführen.

Die Kinder sind weder naiv noch böse noch überempfindsam. In Staffords Prosa, zwischen Nüchternheit und Skurrilität oszillierend, kommt Kindheit an ihr Ende, Verluste türmen sich auf. Eine noch immer, vielleicht heute stärker denn je beeindruckende Erzählung über die Unmöglichkeit, erwachsen zu werden, die Unmöglichkeit, ein Kind zu bleiben. Es verwundert kaum, dass bei der Lektüre Henry James und Virginia Woolf in den Sinn kommen.

Ein ebenso gewichtiger Fund ist Barracoon. Barracoon, so hießen die elenden Baracken, in denen Afrikaner vor ihrem Abtransport in die Sklaverei hausten. Cudjo Lewis, dessen afrikanischer Name Oluale Kossola lautete, war ein Isha-Yoruba. Geboren um das Jahr 1841 herum und mit etwa 19 Jahren vom Stamm der Dahomey im heutigen Benin überfallen – die Dahomey-Krieger löschten die gesamte Bevölkerung von Kossolas Heimatort Bente aus –, gefangen genommen, an die westafrikanische Küste verschleppt und dort an amerikanische Sklavenhändler verhökert.

Allgegenwärtige Sklaverei

Diese brachten ihn und viele andere illegal, der Sklavenhandel war verboten, in die USA. Fünf Jahre und sechs Monate lang war er Sklave, und als ihn die afroamerikanische Autorin und Ethnologin Zora Neale Hurston 1931 zu mehreren Gesprächen aufsuchte, der letzte Ex-Sklave, der davon noch berichten konnte, von seinen Qualen, seinem armen Leben, seinem ungebrochenen Heimweh nach Afrika.

Im selben Jahr war das Manuskript abgeschlossen und wurde reihum von Verlagen abgelehnt. Begründung: Weltwirtschaftskrise. Zora Neale Hurston (1891–1960), die in den 1930er-Jahren einige Romane veröffentlichte, wurde später ins Vergessen abgedrängt und starb arm und vergessen. Heute gilt ihr Werk als wichtiger Teil der US-amerikanischen Literaturhistorie. Barracoon erschien erst 2018 als vom Nachlass initiierte Edition. Zum Glück übernahm der deutsche Verlag einen Ausschnitt aus dem transkribierten Original, sodass man Cudjos mündlichen Duktus nachlesen kann.

"So viele Worte vom Verkäufer, aber kein einziges Wort von den Verkauften. Von den Königen und Kapitänen, deren Worte Schiffe bewegten. Aber kein einziges Wort von der Fracht", schreibt Hurston in ihrer Einleitung.

Wichtiges Dokument

Daher ist dieses Dokument wichtig. 1866 gründeten die freigelassenen Afrikaner, als Pächter tätig, ihre eigene Siedlung am Rand von Mobile, Alabama, und nannten sie "Africatown". Später wurde der Ort in "Plateau" umbenannt. Cudjo Lewis war 1931 ein Vierteljahrhundert lang Küster der Kirche seiner kleinen Kirchengemeinde, nach einem Eisenbahnunfall war ihm Geld zugesprochen worden, das sein weißer Anwalt aber unterschlug.

Der afroamerikanische Romancier James Baldwin schrieb einmal, die Geschichte der Sklaverei sei in den Vereinigten Staaten von Amerika "in allem, was wir tun, buchstäblich gegenwärtig". Blende man historische Erfahrungen aus, so übe ebendies eine tyrannische Macht über ein Land und eine Nation aus. Wie wahr. Wie zeitlos. (Alexander Kluy, 4.7.2020)

Katya Apekina, "Je tiefer das Wasser". Übersetzt von Brigitte Jakubeit.€ 24,70 / 400 Seiten. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2020
Jami Attenberg, "Nicht mein Ding". Übersetzt von Barbara Christ. € 22,70 / 224 Seiten. Schöffling-Verlag, Frankfurt am Main 2020
Zora Neale Hurston, "Barracoon. DieGeschichte des letzten amerikanischen Sklaven". Übersetzt von Hans-Ulrich Möhring. € 20,60 / 224 Seiten. Penguin-Verlag, München 2020
Téa Obreht, "Herzland". Übersetzt von Bernhard Robben. € 24,70 / 512 Seiten. Rowohlt-Berlin-Verlag, Berlin 2020
Jean Stafford, "Die Berglöwin". Übersetzt von Adelheid und Jürgen Dormagen. € 25,70 / 352 Seiten. Dörlemann-Verlag, Zürich 2020

Elizabeth Strout, "Die langen Abende". Übersetzt von Sabine Roth. € 20,60 / 352 Seiten. Luchterhand-Verlag, München 2020