Es ist kein Schulschluss wie jeder andere. In der Tat, es ist ein Schulschluss, wie wir ihn bislang nicht erlebt haben. Monatelang lernten unsere Schülerinnen und Schüler von zu Hause aus, manche besser, manche schlechter, manche gar nicht, je nachdem, wie es bei ihnen zu Hause bestellt war. Die Matura brachte Erleichterungen oder auch nicht, je nach Sichtweise und  persönlichen Erfahrungen und auch abhängig davon, in welchem Zusammenhang man damit befasst war.

Schuldirektorin etwa, meine zuletzt ausgeübte Profession, möchte ich jedenfalls derzeit nicht sein. Eine erstaunte Öffentlichkeit erfuhr, dass wir uns in mancherlei Hinsicht noch in der digitalen Steinzeit befinden, nicht nur, was die Ausstattung der Schulen betrifft, sondern vor allem auch den unterschiedlichen Wissensstand unter der Lehrerschaft. Vielerorts entstand, jedenfalls in der ersten Phase des Lockdowns, Chaos im Homeschooling, ausgelöst durch das in unseren Schulen doch noch stark ausgeprägte Einzelgängertum der Lehrerschaft. Kurzum: Jahrzehntelange Versäumnisse im Schulsystem wurden einer breiten Öffentlichkeit bewusst gemacht. Die allermeisten Lehrerinnen und Lehrer arbeiteten und arbeiteten in dieser schwierigen Zeit mit großem Einsatz und versuchten ihr Bestes. Dennoch konnten all die Bemühungen nicht über die offen zutage getretene Erkenntnis hinwegtäuschen, dass unsere Schule an allen Ecken und Enden reparaturbedürftig ist.

Eklatante Ungerechtigkeit

Ich möchte eine Problemzone näher beleuchten, die seit Jahren bekannt ist und die in der Ausnahmesituation der Pandemie besonders schmerzhaft sichtbar wurde: die eklatante Ungerechtigkeit unseres Bildungssystems. Wie in kaum einem vergleichbaren Land (OECD) gelingt der Aufstieg via Bildung so schlecht wie in Österreich. Noch immer erreichen nur 7 Prozent aus Elternhäusern mit maximal Pflichtschulabschluss einen Hochschulabschluss. Hingegen absolvieren Personen aus einem akademischen Haushalt zu 57 Prozent eine Hochschule oder Akademie, um nur ein Beispiel von vielen zu nennen. Keine Regierung der letzten zwei Jahrzehnte hat sich die Beseitigung dieser Schieflage zum Ziel gesetzt. Auch im aktuellen Regierungsprogramm sucht man vergeblich danach.

Die Schwachstellen im Schulsystem wurden mit dem Lockdown sichtbar.
Foto: APA/HERBERT NEUBAUER

Eltern plötzlich im Fokus

Als von einem Tag auf den anderen die Schulen geschlossen wurden, wurden die Schwachstellen unseres Schulsystems so deutlich wie kaum je zuvor. Auch die große Bildungsungerechtigkeit  wurde schmerzlich sichtbar. Elternarbeit beziehungsweise Nachhilfe als Ersatz dafür, werden hierzulande als selbstverständlich voraufgesetzt und auch als selbstverständlich hingenommen. Eltern, die nicht mit ihren Kindern lernen, werden nicht selten von Lehrerinnen und Lehrern als unkooperativ hingestellt. Die Schule und der Schulerfolg sei ihnen egal, und man müsse sie daher "in die Pflicht" nehmen. Kinder und Jugendliche, deren Eltern diese Arbeit nicht leisten können, fallen oft immer weiter zurück und verlassen nicht selten die Schule ohne Schulabschluss.

Im März waren plötzlich die Eltern im Fokus und ihre Leistungen im Homeschooling. Wir diskutierten, dass viele Eltern die schulische Arbeit nicht erbringen können. Wir erfuhren auch, dass Kinder in so beengten Wohnverhältnissen leben, dass sie keinen Platz haben, um ihre Aufgaben zu erledigen. Wir erfuhren aber auch, dass genau diese Kinder keine Tablets oder Notebooks haben, um am Homeschooling teilnehmen zu können. Wer erwartet hätte, dass in einer unbürokratischen Aktion den Betroffenen die fehlenden Geräte zur Verfügung gestellt werden, wurde enttäuscht. Es geschah nicht, wenngleich es dem Minister möglich gewesen wäre. Stattdessen wurden wir Zeugen eines unwürdigen Hin und Hers zwischen Bund und Land. Die Schülerinnen und Schüler aus Bundesschulen erhielten Leihgeräte. In den Ländern wurden teils Spendenaktionen gestartet, teils wurden ebenfalls Geräte zur Verfügung gestellt.

Die Ungleichheit ist in der österreichischen Schule strukturell verankert. Wir trennen so früh wie kaum ein anderes Land. Demnächst sollen die Weichen sogar schon in der dritten Klasse Volksschule gestellt werden. Herkunftsbedingte Defizite, die Kinder bereits im Kindergarten aufweisen, werden oft nicht behoben und in die Volksschule und später in die Sekundarstufe I mitgenommen. Das hängt mit der Art des Unterrichts ebenso zusammen wie mit der Tatsache, dass der soziale Ausgleich gar keine Zielsetzung in den Schulgesetzen ist.

Eine Gruppe darf sich nicht über Erleichterungen freuen

Die strukturell bedingte Bildungsungerechtigkeit wird uns aktuell an einem Beispiel besonders deutlich vor Augen geführt. Es gibt heuer  für viele Betroffene Erleichterungen in der Ausnahmesituation. So wurde etwa auf die mündliche Matura verzichtet, und Schülerinnen und Schüler dürfen heuer ohne Beschluss der Lehrerkonferenz aufsteigen. Auch mit mehreren Nicht genügend darf man aufsteigen, wenn die Lehrerkonferenz es beschließt. Das ist gut so. Eine Gruppe allerdings darf sich nicht über Erleichterungen freuen, und sie trifft das System mit voller Härte: Es sind die Kinder und Jugendlichen in den Deutschförderklassen. Sie waren natürlich in der Phase des Homeschoolings besonders betroffen, weil sie ja nicht Deutsch sprechen konnten.

Die ohnehin umstrittenen Deutschklassen, die übrigens von keinen Wissenschafterinnen und Wissenschaftern positiv gesehen werden, sehen einen "MIKAD" genannten Test vor, dessen Bestehen darüber entscheidet, ob man in die Regelklasse wechseln darf oder nicht. Den Test nicht zu bestehen bedeutet den Verlust eines Schuljahres, in manchen Fällen sogar von zwei Schuljahren. Der Test, der für Juni vorgesehen war, wurde nach langem Hin und Her an den Schulanfang verlegt. Eine Sommerschule wurde mit Fokus auf genau diese Kinder eingerichtet. Dass in zwei Wochen die Defizite eines halben Jahres nicht nachgeholt werden können, liegt auf der Hand.

Hätte man auf den Test verzichtet und den Schulen für das nächste Schuljahr ausreichend zusätzliche Ressourcen für den Zweitspracherwerb zur Verfügung gestellt, hätte man auch die Sommerschule allen, die es brauchen, anbieten können. Im Grunde genommen ist nämlich so eine Sommerschule eine gute Sache. Zusätzliche Ressourcen für das nächste Schuljahr wird es aber nicht geben, das steht jetzt schon fest. Auch nicht für die Kinder in den Deutschförderklassen.

Am Beispiel des Umgangs mit den besonders Vulnerablen, im konkreten Fall den Kindern in den Deutschförderklassen, wird uns in aller Deutlichkeit vor Augen geführt, wie es um die Bildungsgerechtigkeit in unseren Schulen bestellt ist: schlecht. Arme Kinder. Eine Schande für Österreich. (Heidi Schrodt, 6.7.2020)

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