Auf der Suche nach nachfragenden Journalistinnen, Journalisten, aufklärenden Beiträgen in Radio, Fernsehen, Printmedien oder empörten Kommentaren und Shitstorms in den sozialen Medien bleibe ich nach der Ankündigung, dass alle Schulen in mehreren Bezirken Oberösterreichs ab 3. Juli geschlossen werden, verstört zurück. Kommt das nur mir komisch vor?

Interaktionen in geschlossenen Räumen: Probieren wir es mal mit den Schulen?

Landeshauptmann Thomas Stelzer (ÖVP) kündigt bei einer Pressekonferenz erneute Schulschließungen in fünf Bezirken Oberösterreichs an. Dies geschieht während des Unterrichts, Direktionen, Lehrerinnen und Lehrer werden nicht vorab informiert. Sie sind direkt nach dem Unterricht mit unsicheren Eltern und Kindern konfrontiert. Bis zum nächsten Tag sollen sie alles organisiert haben. Aber es gibt ja eine Telefonhotline, da dürfe man sich melden. Landesrätin Christine Haberlander (ÖVP) versucht zu rechtfertigen, dass Interaktionen in geschlossenen Räumen besonders gefährlich seien, und das heiße folgerichtig: Schulen zu!

Grund genug scheint ein Infektionscluster zu sein, der sich bei einer Zusammenkunft einer Glaubensgemeinschaft gebildet hat. Hier seien auch Kinder anwesend gewesen, was die Schulschließungen legitimiere. Die Argumentation erscheint leer und wenig nachvollziehbar. Sie wird in der "ZiB 2" vom Landeshauptmann wiederholt. Ich frage mich: Wo sind die journalistischen Fragen? Warum die Schulen? Warum ist ausgerechnet das die erste Maßnahme? Die Antwort möchte wohl niemand hören: Das ist das, was geht. Andere Bereiche haben eine stärkere Lobby und mehr Einfluss auf Politikerinnen, Politiker und andere Entscheidungsträger. Kinder sind hier ausnahmsweise einmal nicht zu laut.

Ich wünsche mir Antworten: Warum erscheint es politischen Entscheidungträgerinnen und Entscheidungsträgern als das logischste und sinnvollste Mittel, gesamte Schulen zuzusperren, wo es keinen Zusammenhang zum betreffenden Cluster gibt? Zur Sicherheit mal alle isolieren? Schadet ja niemandem? Und ganz privat frage ich mich: Bin nur ich empört darüber?

Klar ist: Auftretende Fälle genau zurückzuverfolgen und Quarantänemaßnahmen spezifisch zu setzen erscheint in der derzeitigen Situation angebracht – will man doch mit allen Mitteln einen weiteren Lockdown vermeiden. Wozu wurden die Klassen dann geteilt, der Unterricht de facto seit Monaten halbiert, wenn ohnehin dann wieder flächendeckend zugesperrt wird?

Halbe Bildung aus dem Plastiksackerl zum Selberheimtragen.
Foto: Johanna Linimayr

Ins Private abgeschoben

Als Mutter einer neunjährigen Volksschülerin, die gerne und ausdauernd lernt, gewissenhaft ihre Aufgaben erledigt und trotz Lockdowns ein fröhliches Kind geblieben ist, wundere ich mich über das Aushalten dieser "Bildungssituation", die zur Privatangelegenheit verkommt.

Wie jedes Kind benötigt auch meine Tochter Unterstützung beim Lernen. Sie benötigt die Präsenz eines Erwachsenen, der zur Verfügung steht, wenn er gebraucht wird. Normalerweise leistet dies ihre engagierte Lehrerin an fünf Vormittagen in der Woche. Normalerweise. Können wirklich alle dieses halbierte Bildungsangebot akzeptieren? Aber ist doch alles nicht so tragisch, und jetzt ist ja auch schon fast Schulschluss. Oder?

Als Ergotherapeutin schießen mir die handlungswissenschaftlichen Konzepte "occupational justice" (Betätigungsgerechtigkeit) und "occupational deprivation" (Betätigungsdeprivation) ein. Und ich finde mich in einem (privaten?!) Dilemma aus Ungerechtigkeit und Bildungsdeprivation wieder, wenn Schulschließungen das erste Mittel sind. "Warum darf ich nächste Woche zum Friseur? Die Schule ist doch auch zu", fragt mich das Kind. Ja, genau, denke ich, warum eigentlich?

Selbst in einem Gesundheitsberuf tätig, trage ich die Hygienemaßnahmen mit und versuche bestmögliche therapeutische Qualität unter neuen Umständen zu leisten. Ich bemerke, wie meine Kolleginnen, Kollegen und ich ins Schwitzen kommen: Abstandsregeln einhalten in der Therapie mit Kleinkindern ist eine Herkulesaufgabe, der sich alle ausnahmslos stellen. Flexibilität ist ja nun von allen gefordert. Die Zusammenarbeit mit Kindergärten, eigentlich ein Grundpfeiler meiner Arbeit, wurde völlig heruntergefahren. Kein Zutritt, kein Kontakt.

Betätigungsdeprivation in allen Bereichen: Bildung, Arbeit, Freizeit. Eigentlich geht es in meinem Beruf um Entwicklung, es geht um Lernen, Kommunikation und soziale Interaktion, und ich erfahre, wie die Entwicklung der Kleinsten und Schwächsten ins Private abgeschoben wird. Auf die Mütter und Väter – vor allem auf die Mütter.

"Frauenfrage" als lapidarer Nebensatz

Die Konsequenzen von Schulschließungen für Kinder und Familien werden seitens der Verantwortlichen lapidar in einem Nebensatz erwähnt: Ja, natürlich sind die Frauen die Leidtragenden. Punkt. Als wäre irgendetwas daran "natürlich". Die "Frauenfrage" in der Corona-Krise ist noch immer zu keiner gesamtgesellschaftlichen geworden. Schulschließungen und Kinderbetreuungsstopps sind keine simplen Maßnahmen. Sie greifen ins komplexe System geschlechtergerechter Handlungsfähigkeit ein. Das Politische ist eben immer auch privat, das Private politisch.

Corona ist das neue Biedermeier

Es ist schön, wenn Menschen sich trotz Krise gut organisieren können. Aber ich appelliere an Sie – bevor Sie sich ins vertraute Heim zurückziehen, fragen Sie sich einen Moment: Wie kann ein öffentlicher Diskurs über Bildungsdeprivation stattfinden, wenn wir unseren Kindern vorleben, dass man sich einfach fügen muss – ohne Debatte? Wie können unsere Kinder ihr Recht auf Bildung und Entwicklung, auf soziale Interaktion und Kommunikation einfordern, wenn wir sie nicht dabei unterstützen? Wie kann ich meinem Kind Geschlechtergerechtigkeit vorleben, wenn es überall "natürlich" ist, dass die Mütter zu Hause bleiben, um Homeschooling zu betreiben? Wie kann ich meinem Kind Betätigungsgerechtigkeit näherbringen, wenn es erlebt, dass die Schule auf- und zugesperrt wird, je nach politischem Entschluss und ohne öffentlichen Diskurs. Die Mama empört sich nur privat.

Das neue Biedermeier heißt Corona. Die Menschen werden ins Private gedrängt, vor allem die Frauen und auch die Kinder. Das werdet ihr schon schaffen, scheint die neue Devise zu sein. Alles sehr privat, denke ich. Zeit für mehr Öffentlichkeit. (Johanna Linimayr, 6.7.2020)