Rutschen wir zurück in ein Weltbild voller handgreiflicher Konflikte? Wrestler in New Delhi bei der täglichen Arbeit der Streitschlichtung.

Foto: Harish Tyagi/epa

Die Gelegenheit scheint gerade besonders ungünstig für den "zwanglosen Zwang des besseren Arguments". Vorbei die Zeit, als man sein Gegenüber einzig durch die Kraft der besseren, weil vernünftigeren Gründe zu überzeugen trachtete.

Philosophen wie Jürgen Habermas, Deutschlands Prophet des "kommunikativen Handelns", verkündeten bis vor kurzem Konsens als gesellschaftliches Bindemittel. Zustimmung sei unausweichlich das Produkt allseitigen Vernunftgebrauchs: Wir, die wir die demokratische Öffentlichkeit bilden, würden schon noch begreifen, was wir aneinander hätten. Selbst wenn eine beliebige Unterhandlung in den Dissens schlittert: Die Teilnehmer am Diskurs hätten sich dennoch wechselseitig ihrer guten Absichten versichert. Rechtens sei, was rational ist. Und voneinander nimmt man nur das Beste an.

Vom geduldigen Austausch potenziell gleichwertiger Meinungen als "ultissima ratio" kommunikativer Vernunft spürt man im Zeitalter splitternder Statuen beschämend wenig. Auf Vertreter der Black-Lives-Matter-Bewegung wird von US-Waffenträgern blindlings das Feuer eröffnet. Man verlangt und betreibt mit quasi-religiöser Inbrunst die Demontage von Zeugnissen einer überholten Denkungsart. Nicht, dass die Gewalt im öffentlichen Raum bloß wächst. Schlimmer scheint es um die grundsätzlichen Bedingungen von Verständigung bestellt. Politik, gerade auch eine solche, die um die Bewertung der Vergangenheit kreist, wird wie in alten Zeiten verstärkt entlang von Sollbruchstellen entwickelt. Die einzig gültige Unterscheidung basiert dann unausweichlich auf der Freund-Feind-Erkennung.

Bei Schmitt in der Schule

Man meint, die Engagierten aller Erhitzungsgrade und Couleurs wären beim Staatsjuristen Carl Schmitt (1888–1985) zur Rechtsbelehrung in die Schule gegangen. Schmitt, Parteigänger der Nazis, entwarf in Der Begriff des Politischen (1932) ein Schema von schlagender Simplizität. Breche man alles Politische auf sein unumgängliches Maß herunter, lande man unweigerlich beim "äußersten Gegensatz" der "Freund-Feindgruppierung". Einzig an der Wirksamkeit dieses Antagonismus sei der Gehalt von Politik überhaupt zu ermessen.

Insofern umfasst das "Politische" laut Schmitt auch kein eigenes Sachgebiet. In ihm äußert sich lediglich "seinsmäßig" der Intensitätsgrad einer "Assoziation oder Dissoziation von Menschen". Natürlich führt Schmitt, hierin ganz völkerrechtliches Kind seiner Zeit, den Staat als die "maßgebende politische Einheit" an, von deren Warte aus über "Todesbereitschaft und Tötungsbereitschaft" verfügt wird. Auch hat Schmitt bereits den "totalen Staat" der nationalsozialistischen Gleich schaltung ungerührt im Blick.

Doch auch abseits einer Diskussion von staatlicher Befugnis wird man von der neuerlichen Inkraftsetzung der Freund-Feind-Bestimmung nicht absehen können. Mit dem Verlöschen alter Klassengegensätze und dem Bersten alter Machtblöcke schien eine kurze, atemlose Zeit lang, nach 1989/90, sogar das "Ende der Geschichte" (Francis Fukuyama) nahe.

Schon durch die ethnozen trisch motivierten Balkankonflikte wurde man rasch eines Schlechteren belehrt. Besser informierte Kreise deklarierten sogar einen "molekularen Bürgerkrieg" aller gegen alle (Hans Magnus Enzensberger), ehe das Anwachsen des Fundamentalismus für die Be drohung der globalen Zivilgesellschaft durch den islamischen Terrorismus sorgte. Mit den bekannten Folgen für das Sicherheitsmanagement unserer Gesellschaften. Heutige Bruchlinien verlaufen häufig genug innergesellschaftlich. Angestachelt durch Resonanzphänomene in den sozialen Medien werden Methoden der Ächtung wie der Verdächtigung in den Dienst einer möglichst frühzeitigen Feind-Erkennung gestellt. "Feinde" werden häufig genug erst nachträglich zu dem gemacht, was sie immer schon gewesen sein sollen: Genießer von Privilegien, die über das Wohl und Wehe anderer, zu kurz Gekommener vollmundig entscheiden.

Als Popanz vorgeführt

Insofern erleben wir gerade Verhältnisse vollendeter Asymme trie. Die mit Vorrechten ausgestatteten Wortführer des Ist-Zustands werden als Popanze vorgeführt: arrogante Verwalter einer auf ungerechten, sogar rassistischen Grundlagen errichteten Ordnung im globalen Maßstab. Solche Bevorteilte, Glückskinder, gemästet durch das Unglück anderer, werden künftig verstärkt damit rechnen müssen, dass ihnen ihre schöne "kommunikative Vernunft" um die Ohren geschlagen wird.

Doch aus der Weltgesellschaft gibt es kein Entrinnen. Es wird dann wohl eher heißen müssen: Feind sein, beieinander bleiben. (Ronald Pohl, 5.7.2020)