Der neue Premier Jean Castex soll für Präsident Emmanuel Macron die Kastanien aus dem Feuer holen, ...
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China hatte seinen "langen Marsch" – Frankreich hingegen kriegt seinen "neuen Weg": Staatspräsident Emmanuel Macron teilte am Sonntagabend per Twitter mit, er passe sein Wahlprogramm von 2017 den internationalen Umwälzungen und Krisen an. "Ein neuer Weg muss skizziert werden", folgerte er, ohne genau zu sagen, wohin sein politischer Kurs nun führen soll.

Was Macron auch nicht sagte: Die Umwälzung ist für ihn vor allem innenpolitisch bedingt. Bei den Gemeinderatswahlen Ende Juli 2020 schwappte eine "grüne Welle" über Frankreich; in den größten Städten wie Paris, Marseille, Lyon, Bordeaux oder Straßburg regieren nun grüne oder rot-grüne Bürgermeisterinnen und Bürgermeister.

Schwere Schlappe

Der Staatschef, der ob seines viel kritisierten Krisenmanagements in Sachen Corona-Pandemie seiner Partei La République en Marche (LRM) eine schwere Schlappe bescherte, reagierte am Tag darauf sehr prompt: Bei einem Bürgerkonvent verkündete er, er wolle die ausgearbeiteten Klimavorschläge fast ausnahmslos dem Parlament und eventuell auch dem Volk zur Abstimmung unterbreiten. Bei genauem Hinschauen erweist sich das großmundige Versprechen indessen als ziemlich mager. Macron ignoriert die beiden zentralen Vorschläge der Bürger: Reduktion der Autobahngeschwindigkeit um 20 auf 110 Stundenkilometer sowie eine vierprozentige Dividendenbesteuerung. Die Volksabstimmung ist zudem keineswegs sicher, sondern soll vor allem ein Drohmittel sein.

Entsprechend laut fiel die Kritik in den französischen Medien aus: Macrons Bürgerkonvent habe "eine Maus geboren", kritisierte etwa der Umweltexperte Arnaud Gossement im Chor mit der grünen Partei Europe Écologie – Les Verts (EELV).

Um aus der Defensive zu kommen, greift Macron nun zu seiner womöglich letzten Waffe vor den Präsidentschaftswahlen 2022, nachdem er gerüchteweise sogar mit einem Rücktritt zwecks vorgezogener Neuwahl geliebäugelt haben soll: Er tauscht seine Regierung aus. Am Freitag hatte er mit dem Lokalpolitiker Jean Castex einen neuen Premier erkoren – und am Montagabend wechselte er die Minister für Umwelt und Inneres aus. Neuer Innenminister wird der 37-jährige Gérald Darmanin, er war zuvor Budgetminister. Neue Umweltministerin wird die 45-jährige Ex-Staatssekretärin Barbara Pompili. Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire und Verteidigungsministerin Florence Parly können auf ihren Posten bleiben und Jean-Yves Le Drian bleibt Außenminister. Die beliebte ehemalige Ministerin des konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy, Roselyne Bachelot, wird Kulturministerin.

Stabilität versus Erneuerung

Ist damit das Einschwenken auf den "neuen Weg" gewährleistet? Auch daran mehren sich Zweifel. "Was gibt es Besseres, als einen technokratischen Konservativen durch einen technokratischen Konservativen zu ersetzen?", fragte ironisch Manon Aubry von den linken "Unbeugsamen".

Es ist nicht abzustreiten, dass der neue Premier Castex ein ähnliches Profil wie sein Vorgänger Édouard Philippe aufweist: Beide hatten die Eliteverwaltungsschule ENA absolviert, wurden Mitglied der konservativen Partei Les Républicains und Bürgermeister an der Landesperipherie, um sich von dort in die Hauptstadt Paris vor- und hochzuarbeiten.

Diese politische Kontinuität kontrastiert mit der tiefgehenden Erneuerung kommunaler Verhältnisse, die sich aus den Gemeindewahlen ergeben hat. In mehreren Großstädten ziehen die Grünen in Rathäuser ein, die zum Teil jahrzehntelang von den gleichen Altparteien beherrscht worden waren. Bordeaux war seit 73 Jahren in bürgerlicher Hand gewesen, Marseille seit 25 Jahren, Lyon seit 19 Jahren. Auch in Straßburg, Besançon oder Grenoble regieren die Grünen mithilfe von Linksparteien und Bürgerkomitees.

... doch der Politstar dieser Tage heißt Michèle Rubirola.
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Am spektakulärsten – und wie immer am leidenschaftlichsten – ging der Machtwechsel am Wochenende in Marseille vonstatten. Vom Alter gebeugt, übergab der konservative Stadtpatriarch Jean-Claude Gaudin nach 25 Jahren als Bürgermeister die Geschicke der mediterranen Hafenstadt in sehr lebhafte Hände: Neue Stadtvorsteherin ist Michèle Rubiola, eine jugendlich wirkende 63-jährige Ärztin, die die Bürgerkoalition "Marseiller Frühling" anführte.

Die Wahl im Stadtrat stand auf des Messers Schneide, da zahlreiche Mitte-Kandidaten ihre Stimme politisch dem rechten oder links-grünen Lager zu verkaufen versuchten. Rubiola lehnte den – am "vieux port" (alten Hafen) von Marseille üblichen – Postenschacher kategorisch ab, wurde aber schließlich trotzdem gewählt.

Ende des "Clan-Denkens"

Nach ihrer Amtseinsetzung versprach die Nichtpolitikerin eine Erneuerung der politischen Sitten und ein Ende des politischen "Clan-Denkens". Das richtete sich nicht nur an die Adresse der lokalen Konservativen, sondern auch an ihre eigene Partei: Die EELV-Zentrale in Paris hatte Rubirolas Kandidatur aus innerparteilichen Rücksichten abgelehnt und die Ärztin aus der Partei ausgeschlossen. Erst als ihre Wahlchancen in Marseille stiegen, wurde sie wieder integriert. (Stefan Brändle, 6.7.2020)