Der Wiener Community-Sender Okto TV (Screenshot) ist eines von 17 nichtkommerziellen Rundfunkprogrammen in Österreich.

Foto: Okto TV Screenshot

Okto, Freirad, Radio Orange, Dorf TV, Proton, Freequenns: 17 nichtkommerzielle Community-Sender gibt es in Österreich, seit 1998 senden die ersten legalen Freien Radios. Das Institut für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung der Akademie der Wissenschaften hat zusammen mit dem Weiterbildungsinstitut der nichtkommerziellen Sender, Commit, den Public Value dieser Sparte untersucht und einen hohen gesellschaftlichen Wert festgestellt. Die Rundfunk- und Telekom-Regulierung RTR hat die Studie beauftragt.

Der Befund der Studienautoren Josef Seeethaler (Akademie der Wissenschaften) und Helmut Peissl (Commit): Nichtkommerzielle Sender deckten den Bedarf an lokaler Information, Kommunikation und Community-Building. Sie sicherten Vielfalt im lokalen Raum, stellten soziale Knotenpunkte dar, vermittelten kritische Medienkompetenz – und machten Demokratie erlebbar.

"Demokratisch relevante Medienqualität fördern"

Die Autoren regen an, die Medienförderung insgesamt und insbesondere für nicht kommerzielle Sender zu überdenken. "Sinnvoll wäre es, Medienförderung als Ganze aufzustocken und auf eine effiziente Förderung demokratisch relevanter Medienqualität umzustellen", erklärt Seethaler gegenüber dem STANDARD: "Das ist keine neue Forderung, das sagen viele Wissenschafter und Praxiskenner seit vielen, vielen Jahren. Für den nichtkommerziellen Rundfunk hieße das: Förderstruktur (wie es überall sein sollte) an den Public Values orientieren, bedarfsgerechte Erhöhung der Fördermittel, Planungssicherheit durch mehrjährige Förderperioden – und Ausbau des Sendernetzes bis hin zu einer flächendeckenden Versorgung."

Derzeit erhalten nichtkommerzielle Sender drei Millionen Euro Medienförderung vom Bund pro Jahr, 2020 um zwei Millionen Corona-Sonderförderung aufgestockt. Kommerzielle Privatsender bekommen regulär 20 Millionen Euro, heuer zusätzlich 15 Millionen Sonderförderung. Der öffentlich-rechtliche ORF erhält aus Rundfunkgebühren rund 640 Millionen Euro pro Jahr.

"Brauchen alle drei Säulen im Rundfunk"

Dieser Förderschlüssel sei nicht sinnvoll, erklärt Seethaler dem STANDARD. Aber: "Wenn wir mit dieser Studie nachweisen, dass der nichtkommerzielle Rundfunk Public Values erbringt, die von keinem anderen Mediengenre in dieser Form erfüllt werden können – Stichworte: Artikulation, Partizipation, Vielfaltssicherung im lokalen Raum –, dann heißt das nicht, dass andere Medienformen und -genres keinen gesellschaftlichen Wert erbringen würden. Im Rundfunksektor brauchen wir alle drei "Säulen": öffentlich-rechtlich, privat-kommerziell und nichtkommerziell."

Welche Funktionen übernehmen die Community-Sender laut Studie? Nichtkommerzielle Sender ermöglichten den Menschen, ihre Anliegen zu kommunizieren und in den öffentlichen Diskurs einzubringen – das gelte besonders für Bevölkerungsgruppen, die sonst aus sozialen, kulturellen oder sprachlichen Gründen keine Stimme in der Öffentlichkeit haben. Sie ermöglichten Menschen, die bei Community-Sendern selbst Medienmacher werden, an der Gestaltung ihrer sozialen und natürlichen Umwelt und damit am politischen Prozess aktiv teilzunehmen.

Die Community-Sender würden Themen aufgreifen, die in anderen Medien kaum vertreten seien. Sie förderten "kritische, nicht bloß technische" Medienkompetenz sowohl durch Gestaltung eigener Medienbeiträge als auch durch die Sensibilisierung des Publikums für die Funktionsweise der Medien. Sie könnten zudem "ein Gegenmodell zu den Schein-Partizipationsangeboten kommerzieller Online-Plattformen" werden, das authentische und verantwortungsbewusste Partizipation ermögliche.

Aber hat sich die Idee des Community-Senders, der Freien Radios mit Social Media nicht überholt? Mit Social Media kann ja jeder zum Medienmacher werden, er hat zumindest theoretisch die gleichen Chancen, Gehör zu finden, womöglich mehr als auf einem freien Lokalradio?

"Wer irgendwas postet, ist noch lange kein Medienmacher"

"Solche Dichotomien – öffentlich-rechtlich vs. privat, kommerziell vs. nichtkommerziell, Zeitung vs. Fernsehen (oder besser: VÖZ vs. ORF), traditionelle Medien vs. soziale Medien – bringen uns nicht weiter", sagt Seethaler. In einer – noch unveröffentlichten – EU-weiten Analyse zeige er zusammen mit Akademiekollegin Maren Beaufort, dass soziale Medien die Bereitschaft für zivilgesellschaftliches Engagement erhöhen, während traditionelle Medien die Bereitschaft, sich mit institutioneller Politik auseinanderzusetzen, positiv beeinflussen.

Seethaler: "Auch wenn dieses Ergebnis nichts über Inhalte sagt, die über die sozialen Medien verbreitet werden, macht es deutlich, dass SM eine Chance bieten, die demokratisch gesinnte Kräfte nutzen können, wenn sie dieses Feld nicht Extremisten oder Verschwörungstheoretikern überlassen wollen."

Freie Sender wirkten zudem im lokalen Raum: "Als Sendungsmacher wende ich mich hier nicht an ein größtenteils diffuses und weit verstreutes Gegenüber, sondern an einen ganz klar eingrenzbaren und mir vertrauten Kreis von Menschen, denen ich am nächsten Tag leibhaftig begegnen könnte. Das beeinflusst mein Anliegen und mein Kommunikationsverhalten ebenso stark wie dessen Auswirkungen."

Seethaler argumentiert zudem: "Wer irgendwas postet, ist noch lange kein Medienmacher. Auch Citizen-Journalism will gelernt sein. Wer eine Sendung machen will, muss Kurse absolvieren und – rechtliche, technische, journalistische – Grundlagen kennen, wenn auch aus anderer Perspektive als im professionellen Journalismus: Hier trennt sich die Spreu vom Weizen. Wer wirklich ein Anliegen hat, bereitet sich nicht nur gerne darauf vor, sondern ist froh darüber, Kommunizieren zu lernen. Damit entwickelt er/sie auch Verantwortung für das Kommunizierte und vermittelt diese Haltung weiter – anders als bei Social Media."

"Das lässt sich nicht in den virtuellen Raum verlegen"

Wäre das Web mit seinen größeren und teils auch günstigeren Möglichkeiten nicht ein adäquaterer Platz für Community-Medien als Rundfunk? Seethaler verneint das: "Community-Medien werken und wirken in der Community. Das heiß nicht, dass das Web nicht den Radius der Community-Medien als lokales politisch-kulturelles Zentrum erweitern könnte. Aber im Kern entscheidend bleibt das Erlebbarmachen von Demokratie durch kommunikative und politisch-partizipative Inklusion der Menschen vor Ort. Das lässt sich nicht in den virtuellen Raum verlegen. Wir haben gerade erst während der Covid-19-Krise und im Zuge der Lockerungen der Maßnahmen erlebt, wie sehr der Mensch ein soziales Wesen ist."

Seethaler über die Erhebung

Die Montag vorgestellte Studie basiert auf 120 Interviews mit – großteils ehrenamtlichen – Mitarbeitern von 15 der 17 österreichischen Community-Sender. Kann man den Public Value von nichtkommerziellen Sendern ableiten aus den Aussagen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieser Sender? Ist das nicht, als würde man ORF-Mitarbeiter fragen, ob und wie sie öffentlich-rechtlichen Mehrwert herstellen, die damit womöglich auch ihren Job und dessen Finanzierung rechtfertigen?

Seethaler: "Wenn man fragen würde, worin die Sendungsmacher den Public Value nichtkommerziellen Rundfunks sehen, dann hätten wir es mit einer Suggestivfrage zu tun. Aber das haben wir nicht gemacht, und das wird in seriösen Untersuchungen nie gemacht. Vielmehr ließen wir die Teilnehmer der Fokusgruppen-Gespräche drei Stunden lang reden über ihre persönlichen Gründe, warum sie Radio oder Fernsehen machen, nach den Vorstellungen von ihrem Publikum, wie sie ihre Sendungen gestalten, welche Medien sie selbst nutzen und ob sich da durch ihre Tätigkeit was verändert hat sowie nach der Zukunft des Radios oder Fernsehens insbesondere angesichts der steigenden Bedeutung von sozialen Medien."

Er ergänzt: "Wir haben also nicht nach Werten und normativen Funktionen, in denen sich Werte niederschlagen, gefragt. Und wir waren überrascht, dass in allen Fokusgruppen-Gesprächen in durchschnittlich 80 Prozent der Redezeit Aspekte normativer Funktionen zur Sprache kamen, die sich präzise den theoretisch abgeleiteten Funktionen zuordnen ließen – wovon die Teilnehmer nichts wussten."

Autor Seethaler über die Anlage der Studie: "Es ging uns darum zu analysieren, ob es sich beim nichtkommerziellen Rundfunk tatsächlich um eine eigenständige 'Säule' des Rundfunksektors handelt. Im Wissenschaftsdeutsch heißt Säule Institution, also etwas, das Bestand hat und wenn es eine gesellschaftlich sinnvolle Aufgabe erfüllt, auch Förderung verdient. Eine Institution hat sich dann herausgebildet, wenn sich handlungsleitende Werte und Normen ausmachen lassen, die von allen Akteuren innerhalb der Institution (also allen Sendern) geteilt werden und in das Selbstverständnis der handelnden Personen sedimentiert sind. Deshalb sind Fokusgruppen ein geeignetes Instrumentarium, und diese sollten auch einem Außenverständnis entsprechen, was für die Verankerung einer Institution im gesellschaftlichen Gesamtgefüge sprechen würde."

Pharmaforschung und Allgemeinheit

Die Studie entstand zusammen mit dem Forschungs- und Bildungsinstitut der Community-Sender, deren Public Value sie untersuchte. Seethaler dazu: "Sämtliche Förderungen gingen an die Akademie und Helmut Peissl, ohne dessen Kompetenz und Vernetzung die Studie kaum durchführbar gewesen wäre. Er wurde von der Akademie für seine Arbeit bezahlt, war somit meiner Projektleitung unterstellt und weisungsgebunden." Die Forschungsergebnisse seien nachvollziehbar. Die Transkripte der Gespräche etwa stünden jedem zur Einsicht und Verwendung offen wie bei allen Projekten der Akademie.

Seethaler verweist auf die Pharmaforschung: "Weltweit werden gerade von der öffentlichen Hand unzählige Millionen in pharmakologische Forschungen gesteckt, die primär von der Pharmaindustrie durchgeführt werden und bei denen akademische Forschungseinrichtungen bestenfalls eine Partnerrolle einnehmen. Wir alle warten auf ein Ergebnis dieser Forschungen, das allen Menschen hilft, und setzen ungefragt voraus, dass die Pharmaunternehmen nicht nur an ihren Gewinn denken, sondern im Interesse der Allgemeinheit an die bestmögliche und überdies leistbare Lösung. Man sollte das bei einem zivilgesellschaftlichen Akteur, der nicht gewinnorientiert arbeitet, doch noch wohl eher annehmen."

Bei RTR-Studien sind Branchenpartner durchaus üblich: Die jährliche Studie über die Bewegtbildnutzung in Österreich beauftragt die RTR zusammen mit der Arbeitsgemeinschaft Teletest, die von TV-Sendern getragen wird. (fid, 7.7.2020)