Die Migrationsroute über das zentrale Mittelmeer – von Nordafrika nach Italien oder Malta – ist die tödlichste der Welt. Über 20.000 Menschen haben seit 2014 ihr Leben bei dem Versuch, Europa auf diesem Weg zu erreichen, verloren. Als Antwort auf dieses Phänomen kooperiert die EU mit der libyschen Küstenwache. Diese wird mit Geld, Schiffen und Informationen ausgestattet, um Flüchtlingsboote im Mittelmeer abzufangen und die Menschen zurück nach Libyen zu bringen. Die Zahl der Ankünfte in Europa ließ sich dadurch in den letzten vier Jahren kontinuierlich reduzieren, und obwohl die Sterblichkeit im Mittelmeer steigt, geht die absolute Zahl der Toten zurück. Die Flucht nach Europa ist also gefährlicher geworden, aber weniger Menschen unternehmen die Reise, und noch wenigeren gelingt die Überfahrt. Ein Erfolg für Europa?

Libyen: Grobe Menschenrechtsverletzungen

Während die Reduzierung der Todeszahl im Mittelmeer selbstverständlich zu begrüßen ist, basiert diese auf der Kooperation mit einem gescheiterten Staat. Libyen ist ein Bürgerkriegsland ohne einheitliche Regierung und ohne funktionierenden Rechtsstaat. Es ist ein Land, das die Genfer Menschenrechtskonvention nie unterschrieben hat. Zahlreiche Berichte von Menschenrechtsorganisationen und dem Uno-Büro für Menschenrechte belegen die groben Menschenrechtsverletzungen in libyschen Flüchtlingslagern. In Libyen werden Menschen willkürlich inhaftiert, gefoltert und unter unwürdigen Bedingungen festgehalten. Beinahe jede Frau in einem libyschen Flüchtlingslager wird Opfer sexueller Gewalt. Neben den offiziellen Flüchtlingslagern existieren auch zahlreiche andere, die von Schmugglern und Milizen betrieben werden. Diese beschrieb ein deutscher Diplomat als "KZ-ähnlich". In seinem Bericht heißt es wörtlich: "Augenzeugen sprachen von exakt fünf Erschießungen wöchentlich in einem Gefängnis – mit Ankündigung und jeweils freitags, um Raum für Neuankömmlinge zu schaffen, d. h. den menschlichen 'Durchsatz' und damit den Profit der Betreiber zu erhöhen." Darüber hinaus sind seit längerem Videos bekannt, die zeigen, wie Flüchtlinge in Libyen als Sklaven versteigert werden.

Wer diese Politik als einen Erfolg für Europa bezeichnen möchte, muss sich daher mit der Frage auseinandersetzen, ob es legitim ist, dass europäische Staaten mit Verbrecherbanden kooperieren, die Menschen systematisch ausbeuten, foltern, versklaven und ermorden.

Seenotrettung durch die spanische NGO Maydayterraneo vor der libyschen Küste.
Foto: APA/AFP/PABLO GARCIA

Von "Pushbacks" zu "Pullbacks"

Genau dieser Frage gehen aktuell gleich drei internationale Gerichtsverfahren nach. Konkret geht es darum, ob schon die indirekte Beteiligung europäischer Behörden an Rückführungsaktionen nach Libyen einen Verstoß gegen die Menschenrechte darstellt.

Artikel 3 der Menschenrechtskonvention verbietet es nämlich, Menschen an einen Ort zurückzuführen, an dem ihnen Folter oder Lebensgefahr droht. Im Jahr 2012 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Italien schuldig gesprochen, gegen diesen Artikel verstoßen zu haben. Italienische Schiffe hatten zuvor Flüchtlinge nach Libyen zurückgebracht, anstatt sie in einen sicheren Hafen zu bringen. Damit wurden sogenannte "Pushbacks" nach Libyen, wie sie öfters vor diesem grundlegenden Urteil von Italien praktiziert wurden, für illegal erklärt.

Seitdem haben die italienischen Behörden und ihre Partner auf europäischer Ebene ihre Strategie geändert. Wenn ein gestrandetes Flüchtlingsboot gesichtet wird, kommunizieren die zuständige Behörden auf europäischem Boden mit der libyschen Küstenwache, anstatt die Flüchtlinge selbst zu retten und sie nach Libyen zurückzuführen. So führt die libysche Küstenwache die Rückführungsaktion durch, was diese rechtlich vom "Pushback" zum "Pullback" macht und somit außerhalb der Reichweite des EGMR-Urteils von 2012 liegt.

Wie das in der Praxis aussieht, zeigt in eindringlicher Weise der am 17. Juni 2020 präsentierte Bericht "Remote Control" der NGOs Borderline Europe, Mediterranea, Alarm Phone und Sea-Watch. Mittels eines Überwachungsflugzeugs filmten die NGOs beispielsweise, wie sich die italienische Küstenwache trotz mehrmaliger Benachrichtigung weigerte, Flüchtlingen in Seenot zu helfen. Ein italienisches Militärschiff wurde wiederholt angefunkt, reagierte aber erst, als die libysche Küstenwache an Ort und Stelle war. In einem anderen Fall erfolgte die Rettung erst zwölf Stunden nach der ersten Benachrichtigung durch die NGO.

Die drei bereits erwähnten Gerichtsfälle zielen genau darauf ab, diese Art von Strategie zu durchbrechen. Im Fall S.S. und andere versus Italien des EGMR geht es darum, ob Italien gegen Menschenrechte verstößt, wenn seine Behörden der libyschen Küstenwache die Verantwortung für eine Rettungsaktion übergeben, anstatt selbst tätig zu werden. Im Fall Nivin wurde an den UN-Menschenrechtsausschuss Beschwerde eingebracht gegen die Praxis von EU-Staaten, kommerzielle Schiffe dazu anzuhalten, gerettete Flüchtlinge zurück nach Libyen anstatt an einen sicheren Hafen zu bringen. In einem weiteren Verfahren geht es darum, ob die finanzielle Ausstattung der libyschen Küstenwache durch die EU an sich rechtswidrig ist.

Von der Rettung zur Kontrolle

Zusammen zeigen der angesprochene NGO-Bericht und die Gerichtsfälle eine interessante Entwicklung des politischen und zivilgesellschaftlichen Engagements im mediterranen Raum. Früher haben Menschenrechtsaktivisten versucht, der menschlichen Tragödie im Mittelmeer dadurch entgegenzuwirken, dass sie selbst Schiffe gekauft und Menschen vor dem Ertrinken gerettet haben. Als mehr und mehr Menschen gerettet und nach Europa gebracht wurden, entstand ein heftiger politischer Konflikt. NGOs wurden beschuldigt, mit Schleppern gemeinsame Sache zu machen und dazu beizutragen, dass noch mehr Menschen ihr Leben auf dem Mittelmeer verlieren. Rettungsaktionen seien eine Anziehungsquelle (im Fachjargon "pull factor") für Migration. Wissenschaftlich ist diese Hypothese umstritten, aber politisch hat sie viel Kraft. Mit dieser Begründung wurde die Arbeit der NGOs erschwert – etwa durch die Konfiszierung von Schiffen und die Kriminalisierung von Seenotrettern. Auch Kanzler Kurz war stets ein starker Vertreter dieser Argumentation.

Heute sehen wir eine Umkehr dieser Kritik. NGOs halten den EU-Staaten den Spiegel vor und drehen ihre Anschuldigungen um. Es sind nicht mehr die NGOs, denen vorgeworfen wird, mit Schleppern gemeinsame Sache zu machen, es sind die EU-Staaten, die beschuldigt werden, mit kriminellen Akteuren eines zerfallenen Staates zu kooperieren und an deren Verbrechen mitschuldig zu sein.

Die EU und ihre Mitgliedsstaaten mögen in der Lage sein, die Seenotrettungs-NGOs zur Untätigkeit zu zwingen. Es wird sich aber noch zeigen, ob sie die eigene Untätigkeit gegenüber den eigenen Bürgern und Gerichten rechtfertigen können. (Julia Mourão Permoser, 9.7.2020)