Im vergangenen September startete eine der umfangreichsten Arktis-Expedition aller Zeiten: Rund 600 Fachleute und 300 Helfer aus 19 Nationen beteiligten sich an dem Mosaic-Projekt unter der Leitung des Bremerhavener Alfred Wegener Instituts (AWI), bei dem sich das Forschungsschiff Polarstern mit voller Absicht für ein Jahr von einer riesigen Eisscholle umschließen ließ, um so über den Arktischen Ozean zu treiben. Bei der Mosaic-Expedition ("Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate") geht es unter anderem um die Auswirkungen des Klimawandels rund um den Nordpol.

Das Meereis, mit dem die Polarstern durch die Arktis treibt – um Versorgungsschiffe zu treffen, musste die Polarstern ihre Mission zwischenzeitlich unterbrechen -, bildete sich im Dezember 2018 vor den Neusibirischen Inseln, die die Ostsibirische See und die Laptewsee nördlich von Sibirien voneinander trennt – das berichten die Forscher nun in der Fachzeitschrift "The Cryosphere". Dabei wurden auch Steine und Sedimente mit in das Eis eingebaut, die jetzt, wo das Eis um Polarstern herum schmilzt, überall zum Vorschein kommen. Das ist ein immer seltener werdendes Phänomen, da heutzutage der größte Teil des "schmutzigen Eises" schmilzt, bevor es überhaupt in die zentrale Arktis gelangen kann.

Die Polarstern treibt ein Jahr lang durch arktische Gewässer.
Foto: Alfred-Wegener-Institut / Markus Rex

Geburtsort für Meereis

Auf den ersten Blick wirkt es, als hätten Menschen mit dreckverkrusteten Schuhen flächendeckend ihre Spuren im Schnee hinterlassen. Stattdessen sind es jedoch Sedimente und sogar kleine Steine und Muscheln, die die Schmelze derzeit an der Oberfläche der Mosaic-Eisscholle freigibt. Sie sind beim Entstehen des Meereises mit eingefroren worden und stammen dementsprechend aus der Kinderstube des Eises auf dem Sibirischen Schelf, die Wissenschafter jetzt anhand von Modellrechnungen in Kombination mit Satellitendaten genau beschrieben haben.

Die Mosaic-Eisscholle hatte bereits rund 1200 Seemeilen im Zickzackkurs zurückgelegt, als der Forschungseisbrecher Polarstern am 4. Oktober 2019 bei 85 Grad Nord und 137 Grad Ost festmachte und die Drift durchs Nordpolarmeer begann. Während die Forscher in der Arktis mit ihren Messungen beschäftigt sind, analysieren Kollegen daheim die erhobenen Daten. Die genaue Analyse bestätigt die ersten Eindrücke aus der Anfangsphase der Expedition: "Die Auswertung zeigt, dass die gesamte Region, in der die beiden Schiffe nach Schollen gesucht haben, durch außergewöhnlich dünnes Eis geprägt war", berichtet Thomas Krumpen, Meereisphysiker am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI).

Haufenweise Kieselsteine

"Unsere Studie zeigt, dass die Scholle, die wir letztendlich ausgesucht haben, im Dezember 2018 im Flachwasserbereich der russischen Schelfe gebildet wurde", erläutert Krumpen. Vor den sibirischen Küsten drücken starke Winde das Eis von der Küste weg und es entsteht Neueis. Im Flachwasserbereich werden dann Sedimente vom Meeresboden nach oben aufgewirbelt und mit ins Eis eingeschlossen. Bei der Eisbildung können auch Presseisrücken entstehen, die manchmal über den Meeresboden kratzen. Das kann bewirken, dass Steine mit in das Meereis eingebaut werden. Mit der sommerlichen Eisschmelze tritt all dieses Material jetzt an die Oberfläche: "An mehreren Stellen haben wir ganze Haufen von Kieseln von mehreren Zentimetern Durchmessern gefunden und es sind auch Muscheln dabei", berichtet Mosaic-Leiter Markus Rex.

Der Ursprung dieser Kieselsteine liegt in einer Region vor den Neusibirischen Inseln.
Foto: Alfred-Wegener-Institut / Markus Rex

Das Forscherteam um den AWI-Forscher hatte eine Kombination aus Satellitenaufnahmen, Reanalysedaten sowie ein neu entwickeltes gekoppeltes thermodynamisches Modell zur Rückverfolgung der Scholle genutzt. Jetzt stimmt er mit den Kollegen eine Strategie ab, um die Sedimente zu beproben. Wie stark die "schmutzigen" und somit dunklen Flächen das Schmelzen der Scholle nun beschleunigen, ist eine wichtige Fragestellung, die zum Verständnis der Wechselwirkung zwischen Ozean, Eis und Atmosphäre sowie der biogeochemischen Kreisläufe und des Lebens in der Arktis beiträgt.

Altes Eis als glücklicher Fund

Neben mineralischen Komponenten gelangen von der Küste auf diesem Wege auch eine Reihe anderer biogeochemischer Stoffe und Gase in den zentralen Arktischen Ozean. Sie sind ein wichtiger Schwerpunkt der Mosaic-Forschung zu biogeochemischen Kreisläufen, also der Bildung oder Freisetzung von Methan und anderen klimarelevanten Spurengasen im Jahresverlauf. Der in den letzten Jahren beobachtete starke Eisrückgang in der Arktis hat allerdings dazu geführt, dass genau dieses Eis, das von den flachen Schelfen kommt und Sedimente und Gase beinhaltet, im Sommer vermehrt schmilzt.

Der Stofftransport wird dann also unterbrochen. Bereits in den 1990er Jahren waren AWI-Forschende mit der Polarstern mehrfach in jenem Teil der Arktis unterwegs, in der nun die Mosaic-Expedition ihren Anfang nahm. Damals war das Eis am Anfang des Winters noch rund 1,60 Meter dick, während im vergangenen Jahr das Packeis bis auf 50 Zentimeter abgeschmolzen war – was auch die Suche einer ausreichend dicken Scholle im Herbst 2019 erschwert hatte.

Zentralarktis ab 2030 im Sommer eisfrei?

"Wir haben den glücklichen Umstand, dass wir eine Scholle gefunden haben, die den Sommer überlebt hat und von den russischen Schelfen stammt. So lassen sich Transportprozesse der ‚alten Arktis‘ untersuchen, die heutzutage nicht mehr oder nur noch teilweise funktionieren", sagt Krumpen. Gerade in den hohen Breiten sorgt die globale Erwärmung für einen besonders raschen Temperaturanstieg. So hatten russische Wetterbeobachtungsstationen im Sommer 2019, dem Sommer vor Beginn der Expedition, Rekordtemperaturen aufgezeichnet.

Die hohen Temperaturen haben ein rasches Abschmelzen begünstigt und die russischen Randmeere stark erwärmt. Als Folge dessen waren große Teile der Nordostpassage über 93 Tage eisfrei, ein Rekordwert seit Beginn der Satellitenaufzeichnung. Die Forscher erwarten, dass zukünftig im Falle weiterhin so hoher Kohlendioxid-Emissionen – wie in den letzten Jahren – schon ab 2030 auch die zentrale Arktis im Sommer eisfrei sein wird. (red, 8.7.2020)