Ein befriedigendes Sexleben ist für die meisten Menschen ein zentraler Aspekt ihrer Lebenszufriedenheit. Was aber bedeutet das für die vielen chronisch Kranken, die als Folge etwa von Diabetes, multipler Sklerose oder Morbus Crohn oft auch mit sexuellen Einschränkungen leben müssen? Aus der wissenschaftlichen Literatur im deutschsprachigen Raum erfährt man darüber kaum etwas.

65 Prozent der befragten Patienten mit einer chronischen Erkrankung berichten, dass ihr Sexleben für sie wichtig oder sehr wichtig ist.
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Die Pflegewissenschafterin Irina Igerc von der Fachhochschule Wiener Neustadt wollte sich damit nicht zufriedengeben und hat deshalb gemeinsam mit ihrer FH-Kollegin Kathrin Gärtner eine entsprechende Fragebogenerhebung durchgeführt. "Ich bin diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin und habe auch auf einer Bauchchirurgie gearbeitet", berichtet sie. "Dort hatte ich unter anderem Patienten mit künstlichem Darmausgang zu betreuen."

Eigentlich hätte sie diese Menschen auch in Hinblick auf ihr verändertes Sexualleben beraten sollen, doch "wie meinen Kolleginnen und Kollegen fehlte mir dazu schlicht das nötige Wissen", so Irina Igerc. "Zudem wird dieses Thema immer noch tabuisiert und ist sehr schambehaftet, sodass man es lieber vermeidet und die Patienten damit allein lässt." Häufig werden sexuelle Probleme infolge einer Erkrankung von Pflegepersonen und Ärzten auch unterschätzt, weil sie davon ausgehen, dass die Patienten jetzt wichtigere Sorgen haben. "Es stimmt aber nicht, dass sie sich nicht mehr für Sex interessieren", weiß die ehemalige Pflegerin aus ihrer beruflichen Erfahrung sowie aus der kürzlich abgeschlossenen Erhebung.

Fragebögen beantwortet

Über 500 Menschen unter anderem aus diversen Selbsthilfegruppen haben den von den beiden Forscherinnen entwickelten Fragebogen vollständig beantwortet und damit wertvolle Informationen für die Pflegeausbildung geliefert. Was also sind die wichtigsten Ergebnisse?

"Die Studie zeigte deutlich, dass das Thema Sexualität für chronisch kranke Menschen durchaus eine hohe Priorität hat", berichtet Kathrin Gärtner, die als Leiterin des Instituts für Methodik und Marktforschung an der FH Wiener Neustadt ihr Statistik-Know-how sowie ihre Expertise im Bereich Sexualforschung in die Untersuchung eingebracht hat. Demnach gaben 65 Prozent der Befragten mit einer chronischen Erkrankung an, dass Sex für sie wichtig oder sehr wichtig sei.

Alternative Praktiken

37 Prozent davon berichteten von sexuellen Problemen im letzten halben Jahr, bei den nicht chronisch Kranken waren es nur knapp 20 Prozent. "Was uns sehr überraschte, war der Umstand, dass chronisch Erkrankte trotz nahezu doppelt so vieler Dysfunktionen und damit einhergehender Beeinträchtigungen nur in einem geringen Ausmaß mit ihrem Sexleben unzufriedener waren als die Kontrollgruppe", berichtet Gärtner.

"Wir vermuten, dass dahinter ein höherer Einsatz alternativer Praktiken steht." Als wichtigste Faktoren für eine befriedigende Sexualität haben die Forscherinnen zwei zentrale Grundhaltungen bei Menschen mit Funktionsstörungen herausgefiltert: "Sexuelle Aufgeschlossenheit sowie eine nicht zu enge Vorstellung davon, wie Sex sein soll, damit er gut ist", bringt Irina Igerc auf den Punkt. "Wer offener ist, wird auch gute Alternativwege zur sexuellen Zufriedenheit finden." Damit Pflegende künftig konkrete Tipps und Informationen dazu liefern können, soll an der Fachhochschule auch nach Abschluss der Studie zu diesem bislang tabuisierten Thema weitergeforscht werden.

Häufige Dysfunktionen

Männer, so ein Ergebnis der Befragung, leiden häufiger an sexuellen Dysfunktionen wie Erregungsstörungen als Frauen. "Entgegen unseren Vermutungen fanden wir aber eher bei Frauen mit solchen Problemen eine geringere sexuelle Zufriedenheit", wundert sich Gärtner. Wobei Dysfunktionen des Partners jedoch kaum Einfluss auf die eigene sexuelle Zufriedenheit haben. "Sexuelle Probleme scheinen also vor allem die Betroffenen selbst zu stören, nicht aber ihre Partner."

Wenig überraschend ist dagegen die Erkenntnis, dass die sexuelle Zufriedenheit mit fortschreitendem Alter abnimmt. Allerdings nicht mit dem Alter der Befragten, sondern mit dem Alter der Beziehung, in der das sexuelle Leben stattfindet.

"Tatsächlich haben wir in unserer Studie herausgefunden, dass das Alter der Befragten dann keinen signifikanten Einfluss auf die Zufriedenheit mit dem eigenen Sexualleben hat, wenn man die Beziehungsdauer in das Modell aufnimmt", erklärt Kathrin Gärtner. "Etwas plakativ könnte man also sagen, dass nicht ältere Menschen den schlechteren Sex haben, sondern Menschen in langjährigen Beziehungen."

Mit ihrer Studie haben die beiden Forscherinnen Wissen über ein ebenso wichtiges wie verdrängtes Thema der Pflegewissenschaft generiert, das demnächst auch im Lehrplan verankert werden soll. "Um adäquat mit den sexuellen Bedürfnissen und Problemen chronisch kranker Menschen umgehen zu können, müssen die Studierenden bereits während ihrer Ausbildung mehr darüber erfahren und zudem lernen, ohne Scham darüber zu sprechen", betont Irina Igerc.

Tatsächlich ist es höchst an der Zeit, Licht in diesen von Vorurteilen, Ängsten und Sprachlosigkeit verdunkelten Bereich der Pflege zu bringen. Ein Akt der Aufklärung im doppelten Sinn. (Doris Griesser, 12.7.2020)