Viele nennen Israel die Start-up-Nation, doch bei der Umsetzung seiner Hightech-Lösung im Kampf gegen Corona macht das Land eine eher schlechte Figur. Die totale Handyüberwachung aller Bürgerinnen und Bürger, die helfen soll, die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen, macht immer mehr Probleme.

Zehntausende Israelis wurden vom Gesundheitsministerium verständigt, dass sie sich isolieren müssen, weil sie in den vergangenen zwei Wochen in nächster Nähe zu einem Infizierten gewesen waren. Viele von ihnen waren verwundert, weil sie sich nie an jenem Ort aufgehalten hatten, den das Tracking ihnen zuschrieb. Für solche Fälle gibt es eine Hotline, um so rasch wie möglich abzuklären, ob das Tracking sich vielleicht geirrt hat – so weit die Theorie. In der Praxis kommt man bei der Hotline nie durch, erzählen Betroffene dem STANDARD.

Schilder vor einem Geschäft in Jerusalem fordern zum Maskentragen auf.
Foto: MENAHEM KAHANA / AFP / APA

"Niemand will umsonst in Quarantäne gehen, wichtige Termine absagen und Umsatz verlieren, nur weil die Regierung sich auf eine fehleranfällige Technologie verlässt", ärgert sich ein Betroffener. Es gibt aber auch andere Befürchtungen: Wenn das Tracking tausende Menschen fälschlicherweise als Risikofälle markiert, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch viele tatsächlich gefährdete Fälle durch den Raster fallen – und weiter herumlaufen und Viren verbreiten.

Sprung bei schweren Erkrankungsverläufen

Bereits Mitte Juni hatte die Abteilungsleiterin für öffentliche Gesundheit im Gesundheitsministerium, Sigal Sadetzky, von einer zweiten Welle gesprochen, damals nahm man sie nicht ernst. Als die Zahlen anstiegen, kam Sadetzky unter Dauerbeschuss, vor allem von Premier Benjamin Netanjahus Koalitionspartner Blau-Weiß. Am Dienstag, dem Tag mit der höchsten Zahl an Neuinfektionen seit Pandemiebeginn mit über 1.400 neuen bestätigten Fällen und einem beunruhigenden Sprung bei den schweren Erkrankungsverläufen, trat die Beamtin zurück. In einem öffentlichen Abschiedsbrief warf sie der Politik ein Versagen in der Krise vor. "Die kommenden Monate werden mit hoher Wahrscheinlichkeit äußerst schwierig und auch tragisch verlaufen", warnte sie.

Einer der Adressaten, Vizepremierminister Benny Gantz vom Parteibündnis Blau-Weiß, bekam den Brief in Quarantäne zu lesen. Er war am Sonntag laut eigenen Angaben in Kontakt mit einem Infizierten und muss daher isoliert bleiben, bis der epidemiologische Befund vorliegt.

Kritik an totaler Telefonschnüffelei

Indes sorgt das Tracking weiter für Aufregung. Namhafte Juristen werfen der Regierung in einem offenen Brief vor, mit der Schnüffelei das gerade jetzt so dringend benötigte Vertrauen der Bürger beschädigen. Die Regierung solle sich ihre Daten auf eine Weise beschaffen, die weniger tief in die Privatsphäre eindringen als die derzeit praktizierte totale Telefonschnüffelei durch den Inlandsgeheimdienst Schin Beit, fordern sie. Bei den Geheimdienstlern laufen sie damit offene Türen ein. Schin Beit wollte das Tracking nie haben und hat das öffentlich oft genug betont. Man sei für solche Maßnahmen weder vorbereitet noch qualifiziert, hieß es – und habe auch sonst genug zu tun.

Am Mittwoch tagen die Spitzen von Schin Beit, Sicherheitsrat und mehreren Ministerien, um die Probleme beim Tracking zu lösen. Dass die Totalüberwachung eingestellt wird, ist eher nicht zu erwarten. Vorstellbar ist, dass jene, die sich falsch getrackt fühlen, schneller zu einer Antwort kommen, ob sie sich weiterhin isolieren müssen oder nicht.

Kaum weitere Einschränkungen

Im März war die Totalüberwachung unter scharfer Kritik von Datenschützern eingeführt worden, Anfang Juni schaffte man sie wieder ab. Im Aufbrausen der zweiten Covid-Welle griff Israels Regierung erneut zu dem vielkritisierten Anti-Covid-Tool.

Weitere Einschränkungen werden eher zögerlich und teils halbherzig verhängt. So dürfen pro Autobus weiterhin 30 Personen gleichzeitig reisen, obwohl es kaum möglich ist, auf derart engem Raum den vorgeschriebenen Zwei-Meter-Abstand einzuhalten, und die hohe Fluktuation an Passagieren es wahrscheinlicher macht, unterwegs mit Infizierten in Kontakt zu kommen.

Die hohe Arbeitslosigkeit und die Angst vor Massenpleiten lassen die Regierung vor einem weiteren Lockdown zurückschrecken. Während sich zahlreiche Haushalte derzeit verschulden, weil sie ihre Stromrechnungen nicht mehr bezahlen können, zeigte der TV-Sender Channel 13 am Dienstag Bilder von Verkehrsministerin Miri Regev bei der feierlichen Eröffnung einer Autobahnauffahrt nahe Ashkelon – inklusive Bühnenshow, Sekt und feinem Fingerfood-Buffet, das zum Hingreifen ohne Besteck einlädt. Kolportierte Spesenkosten: über 50.000 Euro. Und auch die maximal erlaubte Gästezahl von 20 Personen wurde wohl überschritten: Auf den Aufnahmen sieht man ein Festzelt mit Sitzplätzen für mindestens 50 Gäste. (Maria Sterkl aus Tel Aviv, 8.7.2020)