Im Gastkommentar macht Konzerthaus-Intendant Matthias Naske auf die fehlende Planungssicherheit im Kulturbereich aufmerksam. Und er kritisiert, dass die Corona-Eindämmungspolitik mit zweierlei Maß messe.

Langsam geht uns im Wiener Konzerthaus die Luft aus: Den Betrieb ab Herbst aus eigener Kraft zu sichern ist trotz allen Einsatzes eine beinahe unmögliche Herausforderung. Nach den Wochen der Angst und des Stillstands folgen die Wochen der schrittweisen Lockerungen, die bei den kulturellen Betrieben nur mit besonders gravierender Verzögerung ankommen. Eine Folge dieser Einschränkungen werden weitreichende negative betriebswirtschaftliche Konsequenzen sein.

Ein ganz offensichtliches Dilemma liegt in der Unvereinbarkeit der zeitlichen Planungshorizonte: Während kulturelle Institutionen ihr künstlerisches Konzept in vielen Details über Saisonen und damit über Jahre im Voraus planen und vertraglich in feste Bahnen lenken, disponieren und reagieren die Gesundheitsbehörden zur Bekämpfung der Pandemie im Wochen- und Monatstakt. So wird in diesen Wochen Flexibilität im kulturellen Sektor in einem Maß erwartet, das an die Grenzen des Machbaren führt.

Die Perspektive für kulturelle Betriebe ist stark reglementiert, und die Appelle der Systemrelevanz von Kultur bleiben weiter ungehört.
Foto: AFP / Joe Klamar

Zweierlei Maß

Während das Leben in Österreich in vielen Bereichen nach dem jähen Stillstand ab Mitte März langsam eine sorgsam moderierte Normalität annimmt, ist diese Perspektive für kulturelle Betriebe noch immer substanziell reglementiert. Mein Eindruck ist, dass mit unterschiedlichem Maß gemessen und die Bedeutung der kulturellen Teilhabe in ihrem elementaren Wert für die Gesellschaft nicht angemessen gesehen wird. Es ist nicht nachvollziehbar, warum Menschen in Flugzeugen, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder in der Gastronomie auf engstem Raum nebeneinander sitzen dürfen, jedoch der eingebrachte Vorschlag einer uneingeschränkten Platzbelegung mit der Vorgabe der Mund-Nasen-Schutzpflicht für alle Besucherinnen und Besucher einer kulturellen Veranstaltung keine Zustimmung findet.

Ungehörte Appelle

Die jüngst veröffentlichte Covid-19-Lockerungsverordnung bringt den Kulturbetrieben, die überwiegend eigenwirtschaftlich arbeiten, ab dem 1. 9. 2020 nur wenig Erleichterung. Im Tenor der Einschätzung mancher politisch handelnden Personen werden kulturelle Betriebe so zu einem krisenbedingt verzichtbaren Teil unseres Zusammenlebens. Und alle Appelle der Systemrelevanz von Kultur bleiben ungehört. Zumal: Wenn es schon kein Verständnis für den ideellen Wert von Kunst und Kultur geben mag, so sollte doch zumindest die Einsicht in die wirtschaftliche Relevanz unseres Schaffens für die vielgefeierte Kulturnation bestehen.

Es braucht keine visionären Fähigkeiten, um vorauszusehen, dass uns allen schwierige Jahre bevorstehen. Die wirtschaftlichen Schäden und Belastungen der Volkswirtschaft infolge der Corona-Pandemie werden immer deutlicher zu Tage treten und bei den Menschen ankommen. Dabei wird die Verunsicherung durch eine potenzielle Ansteckung mit dem Coronavirus noch das geringste Übel sein. Trotz vieler Anstrengungen der Regierung, zumindest jene Teile der Wirtschaft zu stärken, von denen man der Ansicht ist, sie seien es wert, werden unzählige Arbeitsplätze verlorengehen. Unzählige Menschen werden sich weit schneller, als sie es sich vorstellen können, als "Menschen ohne Welt" wiederfinden. Der Philosoph Günther Anders beschrieb den Menschen ohne Welt als einen, der gezwungen ist, in einer Welt zu leben, die nicht die seine ist. Wir haben soziale Herausforderungen vor uns, die wir in den ersten Monaten der Krise verdrängen und dennoch nur dann gemeinsam meistern können, wenn wir uns auf die stärkste gemeinsame Kraft, die Solidarität, besinnen. Kulturelle Institutionen haben dabei eine zentrale Funktion für die Aufrechterhaltung der Integrität der Gesellschaft. Nur wer sich als Teil einer funktionierenden Gesellschaft erlebt, wie pluralistisch diese auch immer ist, wird sich gemeinsamer Werte besinnen und Solidarität leben können. Aus diesem Grund bin ich davon überzeugt, dass kulturellen Betrieben eine notwendige Rolle in der Aufrechterhaltung und der Stärkung der Demokratie gerade in Krisenzeiten zukommt.

Drohendes Budgetloch

Der in diesen Tagen veröffentlichte Fixkostenfonds für Non-Profit-Organisationen hilft die Fixkosten der ersten Phase der Corona-Epidemie auszugleichen und wird vielen gemeinnützigen Vereinen erlauben, mit einem blauen Auge über die ersten Monate hinwegzukommen. Die eigentliche Krise in der Kulturwirtschaft steht mit dem Beginn der Saison 2020/21 jedoch erst bevor. Am Beispiel des Wiener Konzerthauses kann das leicht transparent gemacht werden: Bisher waren wir als privater Verein in der Lage, den über 900 Konzerte umfassenden Spielbetrieb größtenteils aus eigener Kraft zu finanzieren – lediglich elf Prozent unserer Einnahmen stammen aus öffentlichen Zuwendungen. Unser konsequent auf Effizienz und Effektivität aufgebautes betriebswirtschaftliches Modell kann unter den ab 1. 9. 2020 geltenden Beschränkungen für den Ticketverkauf nicht fortgeführt werden.

Zwischen der "neuen Normalität" und dem über viele Jahre entwickelten und mit großer Leidenschaft gelebten Modell klafft aufgrund der Einschränkung der Nutzungskapazitäten und des Wegfalls der Deckungsbeiträge aus der Vermietung der Säle ein Budgetloch von 6,1 Millionen Euro. Was der kulturelle Sektor braucht, ist Klarheit, Entschlossenheit und substanzielle Hilfe. (Matthias Naske, 9.7.2020)