Wann vor dem Eisprung der Geschlechtsverkehr stattfindet, könnte eine Rolle spielen. Denn männliche Spermien sind schneller, weibliche dafür ausdauernder.
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Zwischen den Geschlechtern gibt es viele Unterschiede: Frauen verdienen bei der Arbeit (trotz gleicher Position!) nicht nur tendenziell weniger Geld als Männer, beim Geschlechtsverkehr erleben sie auch wesentlich seltener einen Orgasmus. Der sogenannte Gender Pay Gap ließe sich vermutlich per Gesetz schließen. Der Orgasm Gap, indem Männer sich etwas mehr für die Bedürfnisse ihrer Partnerin interessieren und Frauen sich trauen zu sagen, was ihnen beim Geschlechtsverkehr gefällt.

Daneben gibt es jedoch noch einen weiteren Gap – und zwar einen, der sich weder per Dekret noch mit mehr Anteilnahme oder Selbstbewusstsein schließen lässt. Diesen Gap könnte man den Gender Ratio Gap nennen. Er beschreibt die Tatsache, dass weltweit mehr Buben als Mädchen geboren werden. Österreich und Deutschland bilden da keine Ausnahmen: Im Jahr 2018 kamen laut Statistik Austria in Österreich 43.432 Buben zur Welt und 41.372 Mädchen. Laut Angaben des Statistischen Bundesamts waren es in Deutschland 404.052 Buben und 383.471 Mädchen. Das entspricht einem Verhältnis von 51 zu 48 Prozent – und dieses Verhältnis hat sich im Lauf der letzten 60 Jahre kaum geändert.

Auf den ersten Blick eine kleine Differenz. In absoluten Zahlen bedeutet das für Deutschland jedoch, dass allein in den Jahren 2014 bis 2018 gut 97.880 Buben mehr geboren wurden. Doch woran liegt das? Wovon hängt es ab, ob ein Kind mit einem X- oder einem Y-Chromosom geboren wird? Und hat dieser Gender Ratio Gap einen biologischen Sinn?

Zahlreiche Ansätze

Fragen, die Wissenschafter und Wissenschafterinnen seit Jahrzehnten interessieren. Darunter nicht nur Biologen und Demografen, sondern auch Statistiker und Reproduktionsmediziner. Dementsprechend zahlreich sind die Ansätze, das Phänomen zu erklären.

Denn der Gender Ratio Gap widerspricht den Grundlagen der Wahrscheinlichkeit: "Das Geschlecht eines Kindes wird dadurch festgelegt, welche Geschlechtschromosomen bei der Befruchtung zusammenkommen", erklärt Sven Krackow vom Institut für Pathologie und Molekularpathologie des Universitätsspital in Zürich. Die weibliche Eizelle enthält ein X-Chromosom, die männliche Samenzelle entweder ein X- oder ein Y-Chromosom. Befruchtet die Samenzelle die Eizelle mit einem X-Chromosom, wird das Kind weiblich, bei der Befruchtung mit einem Y-Chromosom männlich. "Laut dieser Rechnung müsste das Geschlechterverhältnis zum Zeitpunkt der Befruchtung ein Verhältnis von 50:50 betragen und würde nach der Geburt zwischen Jungen und Mädchen ein Gleichgewicht herrschen", so Krackow. Häufige Streitfrage ist daher, wann das Ungleichgewicht der Geschlechter auftritt: während der Befruchtung oder erst danach? Und: ob das Geschlecht des Kindes durch die Eltern mitbeeinflusst wird.

Einfluss der Hormone

Ein Wissenschafter, der den Gender Ratio Gap bereits seit den 60er-Jahren erforscht, ist der Evolutionsbiologe William James vom University College London. Der Biologe sieht in dem ungleichen Geschlechtsverhältnis einen intelligenten Mechanismus der menschlichen Evolution und geht davon aus, dass der Gap bereits zum Zeitpunkt der Befruchtung entsteht. Kern seiner These ist, dass Frauen und Männer das Geschlecht ihres Nachwuchses über ihre Hormone beeinflussen. Das würde bedeuten: Wenn Männer, die zum Zeitpunkt der Befruchtung einen hohen Testosteronspiegel hätten, auf eine Frauen mit einem hohen Östrogenspiegel träfen, dann würden diese gemeinsam mehr Söhne zeugen. So erklärt der Biologe es zumindest in einer Übersichtsarbeit, die im Jahr 2017 im Fachblatt "Early Human Development" erschien.

Warum ein hoher Testosteron- und Östrogenspiegel mehr männliche Föten entstehen lassen soll, geht aus James' Arbeiten nicht hervor. Zudem stützt der Biologe sich in seinem Artikel fast ausschließlich auf Quellen, in denen er sich selbst zitiert oder die inzwischen veraltet sind. Das heißt, obwohl die Publikation recht neu ist, scheint das Wissen aus ihr veraltet und lässt sich an vielen Stellen wissenschaftlich nicht belegen.

Wann Sex haben?

Christian Albring, Präsident des Berufsverbands der Frauenärzte, kann sich dagegen einen ganz anderen Grund vorstellen, wieso der Zeitpunkt der Empfängnis Einfluss auf das Geschlecht haben könnte. Seine Überlegung: "Spermien, die ein X-Chromosom enthalten, sind langsamer als Spermien mit Y-Chromosomen, haben dafür aber eine etwas längere Überlebensdauer." Finde der Sex dann drei bis fünf Tage vor dem Eisprung statt und danach nicht mehr, seien viele männliche Spermien schon abgestorben, bevor das Ei in den Eileiter gelangt, was wiederum die Wahrscheinlichkeit der Befruchtung mit einem Spermium mit X-Chromosom erhöhe. "Haben Mann und Frau hingegen erst zum Zeitpunkt des Eisprungs selbst Sex, dann sind die schnelleren Spermien mit Y-Chromosomen im Vorteil", so Albring. Wissenschaftlich belegt sei aber auch diese These noch nicht endgültig.

Auch der Biologe Steven Hecht Orzack vom Fresh Pond Research Institute in Cambridge ist von James' Theorie nicht überzeugt. Um herauszufinden, wann das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern entsteht, hat er mit seinem Team im Jahr 2015 verschiedene Datenquellen zu Fehlgeburten, Schwangerschaftsabbrüchen und pränatalen Untersuchungen wie etwa der Fruchtwasseruntersuchung ausgewertet. Dazu kamen Erhebungen von Lebend- und Totgeburten in den USA in den Jahren 1995 bis 2004.

Auf diese Weise konnte er mit seinem Team die Geschlechterverteilung vom dritten Tag nach der Befruchtung bis hin zur Geburt analysieren. Das Ergebnis: Zum Zeitpunkt der Befruchtung war das Geschlechterverhältnis ausgeglichen, also 50:50. Die Forscher registrierten häufigere chromosomale Fehler und eine erhöhte Sterblichkeit in den ersten Wochen bei männlichen Föten; ab der zehnten bis 15. Woche gingen dann mehr weibliche Föten verloren. "Dass am Ende mehr Jungen geboren wurden als Mädchen, lag daran, dass während der Schwangerschaft letztlich insgesamt mehr weibliche Föten starben", fasst Orzack zusammen und widerspricht damit James' Grundannahme, dass der Gender Ratio Gap bereits zum Zeitpunkt der Befruchtung entsteht oder dass die Partnerwahl das Geschlecht beeinflusst.

Es sind nicht die Gene

Die Gene scheinen beim Geschlecht auf jeden Fall keine Rolle zu spielen. Darauf weist eine Untersuchung hin, die vor kurzem im Fachblatt "Proceedings of the Royal Society B" erschien. Um herauszufinden, ob das genetische Profil der Eltern einen Einfluss auf das Geschlecht ihrer Kinder hat, analysierten Wissenschafter und Wissenschafterinnen vom schwedischen Karolinska-Institut in Solna Daten von mehr als 3,54 Millionen Eltern und deren rund 4,75 Millionen Kindern, die seit 1932 in Schweden geborenen wurden. Gäbe es einen genetischen Einfluss, so die These, müssten die Nachkommen der untersuchten Personen ein ähnliches Geschlechterverhältnis aufweisen wie die Nachkommen ihrer Geschwister.

Die Analyse der Daten zeigte, dass dem eindeutig nicht so ist. Das heißt, auch wenn eine Mutter nur Söhne bekam, konnte ihr Bruder nur Töchter haben und ihre Schwester ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis. Die Wissenschafter aus Schweden gehen daher wie Orzack davon aus, dass der Gender Ratio Gap dadurch entsteht, dass während der Schwangerschaft mehr weibliche Föten als männliche sterben. Warum das so ist, können sie allerdings nicht erklären – ebenso wenig wie Orzack. Zusammen mit Wissenschaftern und Wissenschafterinnen des Max-Planck-Instituts in Rostock will er das Phänomen deshalb nun näher untersuchen.

Kein kausaler Zusammenhang

Wie genau der Gender Ratio Gap entsteht, bleibt bis dato also ungeklärt. Unabhängig davon steht jedoch eines fest: Die Geschlechterverteilung kann sich mit den Umständen ändern. So gibt es mittlerweile zahlreiche Studien, die anhand von Geburtsstatistiken zeigen, dass etwa nach terroristischen Aktivitäten oder Erdbeben verhältnismäßig mehr Mädchen geboren wurden. Auch starke Hitzeperioden sowie das Gewicht der Mutter scheinen Auswirkungen auf das Geschlechterverhältnis zu haben.

"Ein Beweis, dass Wärme, Stress und Gewicht dafür verantwortlich sind, dass in bestimmten Perioden mehr Mädchen geboren werden, ist das jedoch nicht", erklärt Frauenarzt Albring. Denn bei den Untersuchungen handelt es sich um sogenannte Beobachtungsstudien, und aus solchen lässt sich kein kausaler Zusammenhang ableiten. Grund für den Geburtenanstieg bei Mädchen könnte demnach auch sein, dass die Mütter nach den Ereignissen ihre Lebensgewohnheiten änderten – sich beispielsweise mehr körperlich bewegten oder anders ernährten. Überhaupt handle es sich bei den ganzen Untersuchungen um Durchschnittswerte. Für das einzelne Paar hätten diese keine Bedeutung.

Der Ansicht ist auch der Biologe Krackow. Beeinflussungen der Geschlechtsverhältnisse seien auf alle möglichen Weisen denkbar, fasst er die Lage zusammen: "Wie genau die aussehen, zu welchem Zeitpunkt sie auftreten, wissen wir jedoch nicht." Für Eltern ist das vermutlich auch egal, denn erstens geht es immer nur um Wahrscheinlichkeiten. Und zweitens: Hauptsache, das Kind ist gesund. (Stella Hombach, 9.7.2020)