Stefan Beyer, Sebastian Neuschler und Johannes Schartner (v. re.) zeigen am Vorgartenmarkt, wie sehr der Geschmack von Lebensmitteln durch Fermentationsprozesse gewinnt.

Foto: Gerhard Wasserbauer

Wein dürfen sie im Ferment gar nicht servieren, dafür sorgt unsere unerreicht unternehmerfreundliche Marktordnung. Dabei ist vergorener Traubensaft wohl das Tollste, was sich die westliche Welt je an fermentierten Lebensmitteln einfallen hat lassen. Dafür gibt es sehr gutes, hausgemachtes Natto und Kimchi, Miso, Koji und Shoyu, allerhand milchsauer in Salz fermentiertes Gemüse von Radieschen bis Spargel, Kefir und Kombucha in Form lustig sprudelnder und gar nicht süßer Limos. Und ganz köstliches Bier von Obertrum bis Bayreuth.

Vor allem aber wird im Ferment sehr seriös gekocht – unter extensivem Einsatz der dem geschmackvollen Zerfall anheimgegebenen Lebensmittel. Fermentationsprozesse nach japanischen und koreanischen Kulturtechniken sind seit ein paar Jahren ein Megatrend des guten Essens, auch hier war der albanische Däne René Redzepi Trendzünder. Und die Ergebnisse sind tatsächlich verblüffend, speziell für Leute, denen Wohlgeschmack und nachhaltiger Druck am Gaumen ähnlich wichtig sind wie die Rettung des Weltklimas.

Im Marktkobel

Aber schön der Reihe nach. Eigentlich wollten der Lebensmitteltechnologe Jens Pontiller und der gelernte Gastronom und Marketingspezialist Stefan Beyer ein Start-up machen, das sich der Produktion von Mikroorganismen auf Basis von Fermentationsprozessen widmet – als Ersatz für künstliche Geschmacksverstärker. Tun sie eh auch. Als aber der Marktstand vis-à-vis vom Mochi Ramen zu haben war, noch dazu mit Kellergeschoss für die Produktion, musste die Chance ergriffen werden, noch dazu, wo mit Johannes Schartner und Sebastian Neuschler gleich zwei Top-Köche mit an Bord sind.

Seit Ende des Lockdowns gibt’s hier eine wöchentlich wechselnde Karte, wie man sie sich eigentlich im neuen Autorenküche-Hotspot für die Hipstercrowd der Hauptstadt erwarten würde. Den gibt’s in Wien halt nicht, dafür aber einen Marktkobel mit genehmigten acht Verabreichungsplätzen – ohne Wein.

Neuschler und Scharner scheinen diebische Freude daran zu haben, die Gäste mit vegetarischen Gerichten zu überrumpeln, denen der Verzicht auf Fleisch aber sowas von nicht anzumerken ist. Kaspressknödelsuppe zum Beispiel, der Knödel dank hochreifem Bierkas stinkert und ziehig wie er sein soll, die Suppe aromatisch, klar, ein mächtiger Kraftbolzen – nur halt durch Koji mit Wohlgeschmack aufgeladen. Oder, wirklich erstaunlich, Butterschnitzel mit perfektem Erdäpfelpüree, Knusperzwiebeln und fantastischem Jus – der ist aber vegan und das Veggie-Schnitzel aus Koji-Gerste und Ei: saftig, knusprig, ein reines Vergnügen – schmeckt tatsächlich um Potenzen besser als fast alles, was in Wiener Wirtshäusern unter Kalbsbutterschnitzel firmieren darf.

Auch bei der gebeizten Forelle mit fermentierten Radieschen.
Foto: Gerhard Wasserbauer

Reh, kein Dünkel

Solche Virtuositäten bilden nur einen Teil des Programms. Gebeizte Forelle mit fermentierten Mairüben und Radieschen ist eine großartige Vorspeise (siehe Bild), der Fisch von fester, wächsern seidiger Konsistenz, die Rüben animierend sauer. Die mit Gin und Salzzitrone aufgeladene Crème fraîche samt Schnittlauchöl liefert die Schmier, um das alles ins Schwingen zu bringen. Rehrücken gibt es auch, als Carpaccio oder kurz gebraten mit Marsalakirschen und Püree aus geschmortem Karfiol – nächste Woche sind dann die Keulen dran. Die Burschen lassen sich von einem befreundeten Jäger die Rehe im Ganzen liefern. So geht Kochen 2020: Ohne Gourmetdünkel, mit direktem Zug zum Endorphinzentrum der Gästehirne, ganz selbstverständlich der Nachhaltigkeit verpflichtet. Ist halt sehr österreichisch, dass man dazu nur Bier oder Kombucha saufen – und von Amts wegen nicht einmal eigenen Wein mitnehmen darf. (Severin Corti, 10.7.2020)

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