Mitglieder des deutschen Bundesverfassungsgerichts bei einer Urteilsverkündung im November 2019.

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Öffentlich bekannte Menschen müssen unter Umständen hinnehmen, dass über frühere Fehltritte auch Jahrzehnte später noch in den Medien berichtet wird. Die Möglichkeit der Berichterstattung erlösche nicht "schematisch durch bloßen Zeitablauf", entschied jedenfalls das deutsche Verfassungsgericht in einem am Donnerstag veröffentlichten Beschluss zum "Recht auf Vergessen".

Es gab wegen einer Verletzung der Pressefreiheit der Verfassungsbeschwerde des "Manager Magazin" (Spiegel-Gruppe) statt, das in einem Porträt über einen Unternehmer und Politiker der Partei von Ronald Schill einen Täuschungsversuch im juristischen Staatsexamen erwähnt hatte.

Das Wirtschaftsmagazin hatte im Jahr 2011 über den Unternehmer und sein börsennotiertes Unternehmen berichtet. In dem Porträt wurde auch thematisiert, dass der Mann vom juristischen Staatsexamen wegen eines Täuschungsversuchs ausgeschlossen worden sei.

Auf dessen Klage hin untersagten Zivilgerichte die Erwähnung dieses Umstands. Der Unternehmer werde als Mensch dargestellt, dem unredliche Methoden nicht wesensfremd seien. Er dürfe wegen dieses längst vergangenen Fehlverhaltens nicht dauerhaft an den Pranger gestellt werden.

Die Entscheidungen der Gerichte genügten nach Ansicht der damit befassten Kammer des Verfassungsgerichts aber nicht den verfassungsrechtlichen Maßgaben. "Eine Person, die aus eigenem Zutun derart dauerhaft in der Öffentlichkeit steht, kann nicht verlangen, dass ihre in der Vergangenheit liegenden Fehler, nicht aber ihre Vorzüge, in Vergessenheit geraten", erklärten die Karlsruher Richter.

Recht auf Vergessen konkretisiert

Sie nutzten den Fall, um die Maßgaben des Gerichts zum "Recht auf Vergessen" mit Blick auf die aktuelle Berichterstattung der Medien zu konkretisieren. Sie wiesen dabei grundsätzlich darauf hin, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht kein Recht vermittle, "in der Öffentlichkeit so dargestellt zu werden, wie es dem eigenen Selbstbild und der beabsichtigten Wirkung entspricht".

Das deutsche Verfassungsgericht führte aber auch Aspekte auf, in denen eine Berichterstattung grundsätzlich nicht möglich sei. Dazu gehören demnach etwa "Details privater Beziehungen und persönliche Ausdrucksformen der Sexualität".

Eine "unzumutbare Beeinträchtigung" der freien Persönlichkeitsentfaltung könne sich "unter besonderen Umständen auch aus einer unzumutbar anprangernden Wirkung" ergeben. Die Verfassungsrichter verwiesen zudem darauf, dass bei lange zurückliegenden Straftaten das Resozialisierungsinteresse zu berücksichtigen sei.

Doch die Zeit allein ist dem Beschluss zufolge kein ausreichendes Kriterium. Es muss demnach jeweils aktuell geprüft werden, ob es einen Anlass für die Berichterstattung gibt. "Andernfalls könnte man über Fehltritte, Ansichten oder Äußerungen von öffentlich bekannten Personen, die diese als Heranwachsende oder in früheren Lebensphasen charakterisieren, regelmäßig nicht berichten", erklärte das deutsche Verfassungsgericht. (APA, AFP, red, 9.7.2020)