Im Gastkommentar widmet sich der Wissenschafter David M. Wineroither dem neuen konservativen Zug zur Mitte – der Schuldenmacherei.

Das Leiden der Sozialdemokratie am Wähler, das nicht weggehen will: ein unglaublich dicht beschriebenes Politikphänomen. Stiefmütterlich nimmt sich hingegen die Beschäftigung mit dem Schicksal des konservativen Mainstream-Zwillings aus, der ein solcher am Wahlgericht nicht sein will; kein geteiltes halbes, sondern verdoppeltes Leid! Aber warum gehören die Konservativen regelmäßig zu den, auch direkten, Profiteuren des Wegbrechens sozialdemokratischer Wählerblöcke?

Zug zur Mitte

Es gibt keine Alchemistenformel, keine universell anwendbare Gleichung für diese erstaunliche Entwicklung; aber es gibt ein Muster, das, weniger vordergründig als Rechtsauslegerei in Zuwanderungsfragen, kaum Erwähnung findet: Man sieht einen Trichter, in den man ideologisch recht disparate Vertreter hineingeschüttet und mit einer erstaunlichen Klammer versehen herausflutschen sieht; denn wenn es eine – reale, wahrgenommene – Gewinnformel für Wahlen und neue Gemeinsamkeit vieler bedeutsamer und ansonsten vielgesichtiger konservativer Parteien gibt, dann in einer Bereitschaft zur Inkaufnahme wachsender Staatsverschuldung. Marktliberale, Nationalkonservative, Christdemokraten – sie unterscheiden sich und widersprechen einander, wenn es um Deregulierung, Arbeitsmarktpolitik oder Handelsregime geht.

Querbeet mauserte sich "deficit spending" zum guten Ton: am eklatantesten bei den Angelsachsen Boris Johnson und Donald Trump; im Rahmen der Peergroup jüngerer Demokratien auffällig bei Viktor Orbán und Jarosław Kaczyński; nachgeholt in der Krise durch die rheinische Kapitalistin Angela Merkel und Sebastian Kurz.

Ein solcher Zug zur Mitte ist einigermaßen ideologiefremd. Zum Konservativismus gehört das Mantra eines (halbwegs) ausgeglichenen Staatshaushalts. Zum Mantra gehört die Beschwörung eines verantwortlichen, effizienten Finanzgebarens der öffentlichen Hand, natürlich immer versehen mit den strapazierten Verweis auf den Kontrapunkt linken Egalitarismus: Vor dem Totenrichter und als staatsbürgerschaftliche Schuldner sind alle gleich!

Premier Boris Johnson will die Wirtschaft des Vereinigten Königreiches mit massiven Investitionen in Infrastruktur in Schwung bringen.
Foto: AFP / Peter Byrne

Harte Währung

Konservative Metamorphose vom Schuldentilger zum Schuldentiger? Bereits die Säulenheiligen konservativer Wenden in abrupter Beendigung des langen Jahrzehnts sozialdemokratischer Dominanz hatten ein haushaltspolitisches Moment beschworen, mit Ausnahme Margaret Thatchers aber rasch beiseitegeschoben: In den USA bewiesen Ronald Reagan und die Familie Bush im Weißen Haus eine lockere Hand beim Geldausgeben auf dem Wege üppiger Steuersenkungen und zugunsten überlegenen Kriegsgeräts. Trumps gewaltige Ausweitung der Staatsverschuldung in guten wie schlechten (Corona-)Zeiten geht noch darüber hinaus und stellt die Dynamik in der EU weit in den Schatten: Die Staatsverschuldung gemessen am BIP explodiert auf einen Wert, der das Niveau vom Ende des Zweiten Weltkrieges übersteigt.

Im UK agierten bereits die Kabinette Theresa Mays und David Camerons ohne besonderen Elan: Noch zur Jahrtausendwende, zur Regierungszeit Labours (Tony Blairs "Dritter Weg"), betrug die Staatsverschuldung gemessen am BIP die Hälfte des durchschnittlichen Wertes der (heutigen) EU-Mitglieder. Seit etwa 2015 liegt das Land sogar darüber, und es öffnet sich die Schere: Johnson setzt den expansiven Weg fort und möchte eine marode öffentliche Infrastruktur, so wie es einst auch Trump versprochen hatte, auf Vordermann bringen. Selbst das staatliche Bildungs- und Gesundheitssystem soll in den Genuss der härtesten aller Währungen kommen: gehaltene Wahlversprechen. Gemessen am Entschuldungstsunami der eisernen Lady Thatcher eine pathologische Geschmacksverwirrung!

Gigantisches Stimuluspaket

In der BRD ging das Merkel-Schäuble-Tandem weit über Helmut Kohls Bemühen hinaus und ließ schwarze Zahlen in Serie schreiben. Aber auch hier wurde jüngst ein gigantisches, in der EU beispielloses Stimulus-Paket geschnürt. Ähnlich das Bild in Österreich: Die Volkspartei war am Aufbau des Wohlfahrtsstaates beteiligt wie die SPÖ und gründete klientelistisch bedingte Mehrausgaben auf beider Willen. Mehr als eine leise Kurskorrektur bei Wolfgang Schüssel und eine größere, aber in Fortsetzung der Sparbemühungen der Vorgängerregierung zu sehende des Kabinetts Kurz I stehen nicht zu Buche. Mit einer raschen Rückkehr auf den Konsolidierungspfad der Vor-Corona-Periode scheint es nichts zu werden: Der Kanzler gefällt sich als Halter langer Leinen. Solidaritätsbeiträge? Grün wird sich an Schwarz-Türkis die Zähne ausbeißen, wenn Vermögenssteuern und Co spruchreif werden sollen!

Selbst die nationalkonservativen Aushängeschilder in Osteuropa spielen mit: Dem starken Mann Polens, Kaczyński, stärkt die schauderhafte Erinnerung an die marktliberale Rosskur der frühen Wendejahre noch heute das Blatt. Wohlfahrtsstaatliche Segnungen, in der Familienpolitik unter erzkonservativen Vorzeichen, tragen zu einem Verharren in überdurchschnittlichen Niveaus der Staatsverschuldung bei. Besser schneidet Ungarns Regierung ab, die den fiskalkonservativen Kurs liberaler Vorgänger – entgegen eigener Rhetorik – in wirtschaftlich guten Folgejahren nicht vollständig lockerte. Vom selbstgesteckten Ziel, die Verschuldung unter 50 Prozent des BIP zu drücken, war man freilich auch am Vorabend der Pandemie weit entfernt.

Die Zangenbewegung blieb nicht folgenlos: Alle Genannten verbesserten unter neu getünchter Flagge und teils echter Politikverschiebung, unterfüttert mit harter Anti-Ausländer-Rhetorik (mit Ausnahme Merkels), ihren Rückhalt in der Arbeiterklasse: eklatant in den Wahlbewegungen Trumps und Johnsons, spürbar bei Orbán und Merkel, Begleiterscheinung allgemeinen Auftriebs bei Kurz. Wahlen werden noch immer – meistens – in der ideologischen Mitte gewonnen. Und beide, oder alle, etablierten Parteienfamilien wissen: Wirklich schmerzhafte Strukturreformen enden selten in Wählerlob. (David M. Wineroither, 10.7.2020)