Österreichs Politik macht den Fehler, die Frage nur im engen, heimatlichen Rahmen zu betrachten – wie übrigens auch die Türkei, so der Politikwissenschafter und Neo-Favoritner Ilker Ataç im Gastkommentar.

Der zehnte Wiener Gemeindebezirk ist nach Angriffen auf eine kurdische Demonstration wieder einmal in den Fokus gerückt.
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Türkeibezogene Themen haben eine gewisse Anziehungskraft für die österreichische Öffentlichkeit und werden anlassbezogen, aber nicht fundiert diskutiert. Das sieht man auch in der laufenden Debatte über die Zwischenfälle in Wien-Favoriten. In den Schlagzeilen wiederholen sich meist Variationen folgender Fragen: Sind die "Türken" in Österreich ausreichend integriert? Wo fühlen sie sich zugehörig? Wie instrumentalisiert die türkische Politik die türkischstämmige österreichische Bevölkerung? Diese – in der Regel mindestens einmal jährlich stattfindenden – Debatten bleiben spekulativ und reproduzieren eine binäre Logik, die die Essenz des Problems verfehlt.

Fragen der Migration brauchen eine transnationale Perspektive, die Mobilität und Kommunikation als Formen von Bewegung und Netzwerken über mehrere Orte begreift, häufig über die Grenzen souveräner Staaten hinweg. Fragen der Zugehörigkeit, der sozialen und politischen Teilhabe sowie interkultureller Kommunikation verorten sich im Zuge der Globalisierung vermehrt auf einer lokalen und transnationalen Ebene.

Der nationalstaatliche Rahmen ist zwar imstande, über Gesetze und diskursive Strategien günstige Rahmenbedingungen für inklusive Zugehörigkeitsmuster zu schaffen, muss sich aber dafür von einer puren nationalstaatlichen Perspektive befreien. Eine solche Perspektive bietet nämlich den idealen Nährboden für rechtsgerichtete Parteien und deren Strategien von Polarisierung und nationalistischen Argumenten, insbesondere wenn es um Migrationsfragen geht. Dies gilt für die Türkei wie auch für Österreich.

Inneres Feindbild

Es gibt zwei Probleme, die durch nationalstaatlich bestimmte Perspektiven und Interessen der türkischen Politik geschaffen werden und Einfluss auf die Lebensbedingungen der türkischstämmigen Menschen in Österreich haben: Erstens wird kurdische Politik in der Türkei seit dem Ende der Friedensverhandlungen 2015 wieder einmal kriminalisiert. Die ehemaligen Co-Vorsitzenden der Demokratische Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, befinden sich als politische Gefangene im Gefängnis.

Gewählte kurdische Bürgermeisterinnen und Bürgermeister werden systematisch abgesetzt. Das Brandmarken kurdischer Politik und demokratisch gewählter kurdischer Politiker als "Terrorismus" ist zu einem neuen Mantra der autoritären Regierung unter Präsident Recep Erdoğan geworden. Gesamtgesellschaftlich führt dies zu einer erneut stärkeren Etablierung eines inneren Feindbilds in der Türkei. Zweitens übt die türkische Politik Einfluss auf türkischstämmige Vereine in Österreich aus und versucht, über vielfältige Dienstleistungen dieser Vereine die politischen Ansichten ihrer Mitglieder zu prägen.

Transnationale Realität

Letzteres wird von der österreichischen und europäischen Politik kritisch betrachtet und öffentlich thematisiert. Dabei wird vergessen, dass die Stigmatisierung kurdischer Politik über soziale Medien und Fernsehen ohnehin – auch ohne diese Vereine – in die Handys und Wohnzimmer der türkischstämmigen Personen in Österreich gelangt. Das ist ein Aspekt der transnationalen Realität. Ersteres, nämlich antidemokratisches Vorgehen und Anfeindungen gegen die kurdische Bewegung, wird hingegen weder von der österreichischen Regierung noch von der der EU sichtbar problematisiert. Das ist aber auch ein transnationales Thema: Noch vor fünf Jahren wurden die Kämpfe der kurdischen Einheiten gegen den IS in Syrien sehr stark als europäische Kämpfe betrachtet – im Kontext des Anschlags islamistischer Terroristen auf Charlie Hebdo sowie als säkulare Kräfte im Nahen Osten. Eine offensive Thematisierung der österreichischen Regierung gegen die Kriminalisierung der kurdischen Bewegung wäre ein demokratisches Zeichen für alle hier lebenden Menschen.

Die Reaktionen der österreichischen Politik nehmen die vielschichtige Natur des Phänomens nicht wahr, wenn etwa Regierungsverantwortliche sagen, dass dadurch Konflikte aus dem Ausland importiert werden. In den Reaktionen des Innenministers und der Integrationsministerin dominiert eine "Law and Ordner"-Perspektive, auch der populäre Begriff der "Parallelgesellschaft" kommt zum Einsatz, es gehe um die Verteidigung "unserer Werte". Der nationalistische Ausgrenzungsdiskurs wird auch vom Wiener Bürgermeister reproduziert, wenn er "in letzter Konsequenz" für die Abschiebung Jugendlicher plädiert, die vermutlich hier geboren sind und die österreichische Staatsbürgerschaft haben. Diese Beispiele zeigen, wie das Problem nationalistisch gerahmt wird. Hier unterscheiden sich die Reaktionen der türkischen und österreichischen Regierungen wenig.

Große Lücke

Dieser Diskurs ist konform mit der existierenden (Des-)Integrationspolitik der Bundesregierung. In einem kürzlich erschienenen Integrationsbericht von SOS Mitmensch betonen die Expertinnen und Experten, dass mehr als die Hälfte der Integrationspolitik "großteils oder gänzlich desintegrativ" wirkt.

Rainer Bauböck vom Europäischen Hochschulinstitut Florenz konstatiert im Rahmen des Berichts, dass sich im türkis-grünen Regierungsprogramm, wie schon unter Türkis-Blau, eine große Lücke in Fragen der politischen Integration zeigt: Im Regierungsprogramm werden die Nachkommen der Migrantinnen und Migranten nicht als Akteure und als Mitglieder der österreichischen Gesellschaft begriffen. Wenn Zugehörigkeit nationalistisch gerahmt wird, kommen Diversität und Elemente der postnationalen Gesellschaft viel zu kurz. Dabei sind Teilhabe und Demokratieförderung auch in Favoriten sowohl lokal als auch transnational zu gestalten, um die vielfältigen Realitäten und Erfahrungen der Jugendlichen zu berücksichtigen. (Ilker Ataç, 10.7.2020)