Je älter ich werde, je länger ich lebe, je mehr ich mitgekriegt habe, desto mehr habe ich vergessen, hinuntergeschoben, weggetan, ohne mir zu merken, wohin ich es verlegt habe. Zum Glück habe ich es jeden Tag mit jemandem zu tun, die sich besser erinnert als ich, selbst wenn es um Dinge geht, die eigentlich nur mich betrafen, ich aber erzählt habe und die sie sich, warum auch immer, gemerkt hat.

Ich jedenfalls nicht. Und, wohlverstanden, damit meine ich jetzt nicht unbedingt all das, was ich mir an peinlichen bis hässlichen Dingen erlaubt, um nicht zu sagen, nicht rechtzeitig verboten und für unzulässig erklärt, aber zwangsläufig gemerkt habe, länger jedenfalls, als es eigentlich Sinn gemacht hat.

Aber das ist ja das wenigste. Das meiste, das man vergisst, ist das Aufbewahren wahrlich nicht wert. Den ganzen Tag, ja das ganze Leben lang macht man meistens, Tag für Tag, Nacht für Nacht, Morgen für Abend Beiläufiges und Nebensächliches, das, kaum dass es da war, wieder weg ist.

Und selbst wenn man etwa abends beim Zähneputzen noch einmal an das Zähneputzen am Morgen denkt, und zwar am zurückliegenden Morgen – nicht am kommenden, es sei denn, die Pastatube zeigt sich flachgepresst –, dann war das ein unwesentlicher Abschied.

Leben ohne jede Bedeutung

Das Leben der meisten, um nicht zu sagen: der allermeisten, ist für fast alle anderen ohne jede Bedeutung. Und das heißt gar nichts, denn wir alle verbringen immer wieder Tage (und Nächte), die uns glücklich und zufrieden zurücklassen, und sei es auch nur, weil man währenddessen nichts Katastrophennahes gespürt hat.

Die meisten Tage genügt uns die Freundlichkeit unserer Umgebung: das Wetter, die Familie, das Erreichen ohne Schwierigkeiten der Schule, des Büros, des Museums, der Wohnung der Freunde und Freundinnen, des Glases am Abend. Das Leben gilt ja nicht nur dann als gelungen, wenn am Ende der Nobelpreis kommt oder ein Börsentriumph.

Vorläufig reicht uns der übliche Frühstückskaffee, das prompte Erreichen der Verkehrshilfen Bus und Bahn, die beruhigende Auskunft des Arztes (es sei alles "so weit" in Ordnung …), die Aussicht auf lange schon Erwartetes, Erhofftes, "Verdientes", selbst wenn es in der Regel nie kommt.

Jochen Jung: Was haben wir getan, um unsere Wünsche zu erfüllen?
Foto: Eva-Maria Repolusk

Alles so weit in Ordnung

Schon bevor wir aus dem Leben scheiden, das nur für uns einzigartig war, von außen betrachtet aber nicht anders als das der (aller)meisten, kurzweilig höchstens für uns selbst, von außen betrachtet aber ganz und gar langweilig, beginnen wir uns zu besinnen: Was hatten wir erwartet, was haben wir getan, um unsere Wünsche zu erfüllen? Möglich, dass wir dann daraufkommen, dass es eigentlich überhaupt nicht unsere Wünsche waren, sondern die der "anderen", die die Welt in Jahrhunderten eingerichtet haben und uns gleichsam heute noch vorschreiben, wie ein gelungenes Leben zu verlaufen hat, was Erfolg heißt, was Anstand.

Natürlich hat man uns beigebracht, dass man besser gar nichts macht als das Falsche, was aber bringt einen dann noch dazu, das Risiko einzugehen, um nach Möglichkeit das Richtige zu tun? Mut? Dummheit? Glaube? Pflicht? Liebe? (Jochen Jung, 11.7.2020)