Lesen hatte in Corona-Zeiten Hochsaison. Was sich da alles stapelt! Regale quellen über. Überall Bücher: Bücher auf dem Kasten, in Fensternischen, sogar auf dem Küchenbord, da, wo ja eigentlich Gewürze stehen sollten. Zeit, sich von etlichem zu trennen. Aber was ist es wert, aufgehoben zu werden? Was kann weg? Was könnten dafür die Kriterien sein? Die Entscheidungen bleiben höchst subjektiv: Gutdünken, Zufall, Tageslaune? Neben einer "Das kann weg"-Schachtel steht jetzt auch eine "Lucky Loser"-Schachtel bereit.

Es ist nicht mein erster Versuch. Schon vor einem Jahr habe ich begonnen, meine Depots zu durchforsten, und mein Buchhändler hat sie abgeholt – fünf große Schachteln voll mit Büchern, von denen ich wusste: Da schaust du kein einziges Mal mehr hinein. Über meine Kriterien, die zu Daumen hoch oder Daumen runter führten, war ich selbst erstaunt. Ansprechende Covers bekamen mehr Aufmerksamkeit im Vergleich zu einfallslosen Titelgrafiken. Bücher mit einem einladenden Schriftbild bevorzugte ich gegenüber dem Kleingedruckten von Taschenbüchern. Und natürlich spielten und spielen Namen eine Rolle. Publikationen von Autoren und Autorinnen, die man persönlich kennt, von denen trennt man sich am schwersten. Wer wie ich fast 20 Jahre als Mitglied der Textvorstellungsredaktion der Alten Schmiede tätig war und an rund 80 Abenden über 200 Kolleginnen und Kollegen persönlich kennengelernt hat, tut sich da besonders schwer.

Besonders in der Corona-Zeit stapeln sich die Bücher.
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Ich habe sie nie gezählt, meine Bücher. Aber an die 5000 Bände, aufgeteilt auf 17 Regale und sonstige Boards, werden es schon sein. Auf zur zweiten Runde: Die leeren Schachteln stehen bereit. Als Erstes nehme ich mir die Lucky Loser vor. Darin harrt schon länger unter anderen Die Schnecke. Überwiegend neurotische Geschichten von einem gewissen Wolfgang Schömel (Klett-Cotta, 2002). Oft war ich versucht, Die Schnecke aus der Lucky-Loser-Versenkung zu holen, zumal das Cover mich ansprach. Eine junge Frau sitzt neben einem Tischchen, auf dem eine Minikanone platziert ist, die genau auf den Kopf der ziemlich jungen, aparten Frau gerichtet ist. Die vielen Ziemlichs treffen es ziemlich genau, weil auch der Inhalt ziemlich ist. Unziemlich. Die Protagonisten dieser Erzählungen haben eines gemeinsam, sie sind sexsüchtig. Alles dreht sich um den nächsten Koitus.

Sich vom "Ziegel" trennen

Wer eigentlich ist dieser Wolfgang Schömel? Der hintere Klappentext verrät es: Schömel ist seit 1989 Hamburger Literaturreferent. Und als solcher auch Mitherausgeber des Hamburger Ziegels. Da war doch was: 1999 nahm eine Hamburgerin an meinem Workshop in Grundlsee teil. Als sie mich einmal in Wien besuchte, schenkte sie mir so einen Hamburger Ziegel. Ich gehe sofort auf die Suche. Da. Er stammt aus dem Jahr 1998. Und siehe da. Ich entdecke im Inhaltsverzeichnis des 620 Seiten dicken Ziegels Beiträge von ein paar von mir hochgeschätzten Autoren und Autorinnen: Kronauer, Beuse, Anselm Glück, Karen Duve. Und auch eine Erzählung von ebenjenem Schömel ist abgedruckt. Die Entscheidung fällt immer schwerer. Platzmäßig wäre es sinnvoll, sich vom Ziegel zu trennen. Aber ausgerechnet den behalte ich, schon allein als Erinnerung an die Hamburger Workshopteilnehmerin. Der Schömel kommt weg. Immerhin.

Neben dem Ziegel fällt mir gleich eine andere Anthologie in die Hände: Liebesgeschichten aus dem Alltag verheißt der Titel. Herausgegeben hat sie bei rororo 1989 eine gewisse Simone Odierna. Bemerkenswert: Von den 54 Beiträgen kenne ich keinen einzigen Autor, keine einzige Autorin. Niemand, der sich in den folgenden 30 Jahren einen Namen gemacht hätte? Ah, doch! Hier: Alois Vogel. Ich kenne ihn als Mitbegründer des Literaturkreises Podium, dessen Mitglied ich seit Jahren bin. Alois Vogel ist 2005 verstorben. Ich weiß, wer sein Nachlassverwalter ist, rufe ihn an, ob er denn vom Buch Der Torwart von Barcelona wisse. Er kann sich nicht erinnern. Ich verspreche ihm, das Buch zu schicken.

Ich habe nicht nur jede Menge Regale, sondern auch sieben Schreibtische in meinem Atelier. Auf einem stapeln sich die Bücher, die ich vorhabe zeitnah zu lesen. Früher sagte ich ja immer: Das heb’ ich mir für die Pension auf. Und jetzt? In der Pension? Hansjörg Schneiders Roman Lieber Leo, ein Fischer-Taschenbuch aus dem Jahr 1982, liegt da schon seit längerem ganz oben auf einem Stapel. Oft habe ich hineingeblättert. Ich meine, ganz gut im Querlesen zu sein. Beim "lieben Leo" funktionierte es allerdings nicht.

Das Werk sei ein Brief an einen toten Freund, ein Brief vom Abschiednehmen, sagt der Text auf der hinteren Umschlagseite. Ich habe das Buch vielleicht aus einer Abverkaufsschütte heraus gekauft. Es hat schon beträchtliche Stockflecken. Und: Die Schriftgröße ist winzig, alles andere denn lesefreundlich. Der Kiepenheuer-&-Witsch-Band, der darunter liegt: Benjamin von Stuckrad-Barres Deutsches Theater: großformatig, einladendes Layout und sogar reich bebildert. Der Autor versammelt darin Texte zum deutschen Wesen. Ich lese zwei, drei Stichproben. Besonders den Text zur "Literaturkritik", eine reale Episode mit Helmut Karasek, liest sich köstlich. Pointiert geschrieben, kein Wort überflüssig. Da bleibe ich dran.

Keine Ahnung, wie es kam, dass die beiden Bücher nebeneinander im Regal stehen. Ich habe ja keine spezielle Ordnung, und ich wundere mich schon viele Jahre, dass ich dann doch das Gesuchte immer finde. Offenbar reine Instinktsache). Die nächsten beiden Erzählbände sind 2005 erschienen. Beide mit schönem Cover. Silke Scheuermann kenne ich als Lyrikerin, ihr Erzählband Reiche Mädchen (Schöffling) war ihr Prosadebüt. Ich erinnere mich, dass ich das Buch damals angelesen habe. Zumindest zeugen die Markierungsstreifchen davon.

Immer wie immer

Der andere Band stammt von Dietlind Antretter und ist ihre erste Veröffentlichung: Immer wie immer (Haymon) wird als Sammlung von Liebesgeschichten ausgewiesen. Auch hier Markierungsstreifchen. Auf Seite 143 (von 192) ein Lesezeichen. Ach ja. Ich fand das damals spannend: Geschichten von einer vom Theater, vom Film, von einer, die in der ganzen Welt zu Hause ist. Antretter war 44, als sie ihr Debüt veröffentlichte, Scheuermann 32, als sie sich an Prosa wagte. Und jetzt? Scheuermann erzählt stringent, was ihre "reichen Mädchen" wollen, auch wenn es dann stets in einer als ungenügend empfundenen Existenz endet. Dementsprechend dicht und treffsicher ihre Sprache. Antretters Figuren hingegen verstricken sich von Anfang an im Wirrwarr aus Bildern und Gefühlen. Und so ist auch die Prosa: Sie führt uns umständlich auf nebelige Sprachpfade. Soll ich beide behalten? Nein, Antretter kommt in die "Lucky Loser"-Schachtel.

Marie E. Brunner? Schon mal gehört? Das Cover ihres Bandes Berge Meere Menschen zeigt eine zu einem Minisegelschiff ausgestattete Nussschalenhälfte. So eng scheint auch das literarische Sujet zu sein. Schauplatz: ein entlegenes Gebirgstal in Südtirol. Akteurin ein Findelkind, das zum Kostkind wird und sich ständig auf der Flucht vor den Menschen und ihrer Vergangenheit befindet. Etwas, das man glaubt schon des Öfteren gelesen zu haben. Von der Autorin existiert auf der Literaturhaus-Seite ein Eintrag. Dem entnehme ich, dass sie wissenschaftlich an deutschen Unis doziert. Und dass sie nach Berge Meere Menschen (2004) 2006 und 2009 noch zwei weitere Bände bei Folio veröffentlichte.

Der Zufall will es, dass Brunners Erstling auf demselben Stapel wie Dieter Sperls Random Walker (Ritter, 2005) liegt. Sperl kenne ich, er hat auch schon auf der dichter® meile gelesen. Er führte von 1999 bis 2002 Kinotagebuch. Und hat in der Dunkelkammer der Kinosäle mitgeschrieben. Das Ergebnis: assoziative Gedankenströme, Prosaminiaturen, die in ihrer Sprunghaftigkeit da Sinn vortäuschen, wo die Sprache Pause macht. Das liest sich faszinierend, fordert heraus. Entdeckerprosa.

Die Entscheidung fällt mir leicht. Ich will mich überraschen lassen. Und nicht lesen, was auf den ersten Blick mehr oder weniger vorhersehbar ist. Nichts gegen Marie Brunner. Jemand anderer, der das Buch demnächst in der Schnäppchenschütte meines Buchhändlers entdecken wird, wird sich sicher freuen.

Meine Fixgrößen

Sie merken schon: Das Abwägen, das überlegte Aussortieren, wird mich in meinem Vorhaben, die Regale wieder für Neues freizubekommen, nicht viel weiterbringen. Abgesehen davon, dass es viele Boards gibt, auf denen sich die "Gesetzten" befinden. Über der Couch etwa ein Bücherbrett mit meinen Fixgrößen: Yates, Genazino, Brautigan, Achternbusch, Arno Schmidt, Botho Strauß, Handke. Ich habe über den Tag doch einige Bücher in der Hand gehabt, in viele wieder hineingelesen. Wenige sind in den "Das kann weg"-Schachteln gelandet. Dafür habe ich jetzt manches neu geordnet, ein wenig System in meine Bestände gebracht. Aber fragen Sie mich bitte nicht, welches das wäre. (Friedrich Hahn, 14.7.2020)