Gerhard Roth unter dem Nussbaum im Vorgarten seines Hauses in der Südsteiermark.

Foto: Hans Rauscher

Es ist ein schöner Aussichtsplatz vor Gerhard Roths Haus. Ein kleiner Vorsprung auf einem kleinen Hügel in der südsteirischen Hügellandschaft. Keine dramatische Szenerie, eher eine liebliche Kulturlandschaft, kleinteilig bewirtschaftet von fleißigen, hart arbeitenden Menschen. Übersichtlich, sauber. Roth lehnt sich in seine Polster zurück und sagt: "Ich habe mir vorgestellt, wenn ich alt bin, sitze ich unter dem Nussbaum und schreibe das Venedig-Buch."

Gerhard Roth ist jetzt 78 Jahre alt und muss sich öfter als früher einfach einmal hinsetzen. Aber der Platz unter dem Nussbaum erscheint genau das Richtige für einen Schriftsteller, der auf ein großes Werk zurückblicken kann, aber nicht daran denkt, mit dem Beobachten, Sammeln und Schreiben aufzuhören. Ein wenig loslassen, vielleicht. Der enorm produktive Schriftsteller hatte zwischendurch auch noch die Kraft, das "Greith-Haus" hochzuziehen, ein bemerkenswertes Kulturzentrum im Grenzland. Dieses "Kind" betrachtet er jetzt als lauffähig. Diesen Sommer hat Roth eine Ausstellung eines syrischen Künstlers über die Ertrinkenden im Mittelmeer begleitet. Davon gleich mehr.

Das Kulturzentrum in St. Ulrich in Greith.
Foto: Ulrike Rauch

"Das" Venedig-Buch ist eigentlich zwei Venedig-Bücher: ein Fotoband mit hunderten Fotos und Notizen, die Roth auf seinen gut 15 Venedig-Reisen angefertigt hat (Venedig – Ein Spiegelbild der Menschheit erscheint im Oktober im Verlag Brandstätter), und der dritte venezianische Kriminalroman mit dem Titel Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe.

"Venedig habe ich zum ersten Mal als zwölfjähriger Bub gesehen", sagt Roth. "Ich bin in die Markuskirche hineingegangen und war positiv niedergeschmettert, ergriffen, weil ich gesehen habe, dass das alles ‚wahr‘ ist. Seither ist Venedig ein magischer Ort. Ich bin mit der Senta (seiner Frau, Anm.) dorthin, dort haben wir beschlossen, zusammenzubleiben. Man sieht die gesamte Menschheitskultur dort, die Stadt zeigt dir, was der Mensch ist. In seiner Grausamkeit, seiner Schönheit, im Essen und Trinken. Ich war zwölfmal im (aufgelassenen) Irrenhaus von San Servolo. Ich gehe überall, wo ich hinkomme, in die Irrenhäuser."

Gerhard Roths Venedig-Buch erscheint im Oktober im Brandstätter-Verlag.
Foto: Verlag

Bewusstes und Unbewusstes

"Was mich an den Irrenhäusern interessiert, ist das Unbewusste. Was macht das Unbewusste aus den Menschen? Ich habe mir immer vorgestellt, dass es einen Filter gibt zwischen Bewusstem und Unbewusstem und dass zu viel Unbewusstes ins Bewusstsein eindringt, weil der Filter vielleicht beschädigt ist. Dadurch hatte ich auch den Ausgangspunkt – wie wird jemand durch das Unbewusste gesteuert? Wie wird er fertig damit? So bin ich den Menschen nachgekommen und habe irrsinnig viel dabei gelernt. Ich habe zum Beispiel versucht, mein Unbewusstes beim Schreiben anzusetzen. Darum kann ich auch relativ viel schreiben, weil mir das mittlerweile gelingt. Es gibt keine bestimmte Technik, aber ich habe mir eingebildet, ich mache das so, wie der Walla malt (August Walla, einer der ‚naiven‘ Künstler der niederösterreichischen Nervenklinik Gugging, Anm.). Man kann es erzwingen, wenn man will. Beim Schreiben sich gehen lassen, in die Sprache hineinfallen lassen, und du spürst dann selber, was alles Unglaubliches herauskommt."

Roth vor einem Tryptichon des Malers Daood.
Foto: Hans Rauscher

"Ich hab jetzt 30 Seiten geschrieben, jeder Satz was anderes, es wird wie ein Gedicht, gell, Senta. Die irrealsten Dinge."

Zu Roths schriftstellerisch-künstlerischer "Persona" gehört, dass er überall an die abseitigen, verborgenen, oft unheimlichen Orte geht, alles notiert, fotografiert, ganz genau registriert. Auf Wanderungen durch die südsteirische Landschaft entstanden so unter anderem die Grundlagen für seine großen Romanzyklen Die Archive des Schweigens (1980–1991) und Orkus (1995–2011), dazu eine Vielzahl von anderen Prosawerken. Und immer der klinische Blick auf die Düsternis. Im letzten Band von Orkus (Reise zu den Toten) heißt es: "Solange ich denken kann, zog mich das Unglück an – der Tod, der Selbstmord, das Verbrechen, der Hass, der Wahnsinn (...). Im Unglück sehe ich das eigentliche Leben."

Aber in all der Widrigkeit immer auch die ironische Pointe. Roths Menschheitsort Venedig erstickte bis vor kurzem am Massentourismus. Dazu hat Roth eine Anekdote: Inmitten des Gewühls auf dem Markusplatz habe plötzlich einer die Hosen heruntergelassen und den chinesischen Touristen den nackten Hintern gezeigt. Und später, an einem anderen Ort, sahen sie es ihn wieder tun. Ein Guerillero.

Der Habsburgerprinz

Wenn man zu Roth fährt, mit dem Regionalzug von Graz, kommt man durch eine ziemlich zersiedelte Landschaft, die früher von Ärmlichkeit geprägt war. Heute dominieren "schmucke" Einfamilienhäuser. Roth über die Veränderung seit seinen Wanderungen durch die Gegend vor 40 Jahren: "Die Leute sind wohlhabender geworden, bürgerlicher. Das Land wird eigentlich zu einer Vorstadt. Aber die größte Veränderung ist, dass sie nicht mehr so ‚dischkerieren‘ wie früher."

Roth war auch der Chronist eines gewissen ländlich-konservativen, ja faschistoiden Denkens. Er hat sich mit den Wehrmacht-Nostalgikern im Dorfwirtshaus angelegt, und in großen Essays während der Waldheim-Zeit das österreichische Wesen analysiert: "Die Österreicher für sich sind Politiker. Sie hassen die Politiker ihres Landes umso mehr, je mehr sie ihnen ähneln" (Das doppelköpfige Österreich, 1987). Heute erscheint ihm Politik im engeren Sinn nicht mehr so bemerkenswert, höchstens dass er eine doppelbödige Beobachtung zu Sebastian Kurz parat hat: "Der Kurz steht da wie ein Habsburgerprinz. Allein die ganze Körpersprache ist habsburgisch. So stellt sich Österreich einen Habsburger vor. Er hat was Vornehmes, man hat den Eindruck, er ist was Besonderes, er hat was zu sagen, er kann ja sehr gut formulieren. Ein politisches Talent, kein Zweifel. Aber in Wirklichkeit ist es nur eine gewisse Mechanik, die da abläuft."

Aber selbstverständlich wird Roth politisch, allerdings in der Überhöhung. Er führt in das ein paar Minuten entfernte Kulturzentrum in St. Ulrich in Greith, einen architektonisch bemerkenswerten, großen Bau, den er mit seinem lokalen Mitstreiter Josef Zmugg erdacht und mit beträchtlichen Bundes-,Landes-und EU-Geldern durchgesetzt hat. Es fanden und finden laufend knallvolle Veranstaltungen mit bekannten Künstlern statt, es wurde auch der Film über den steirischen Kriegsverbrecher Murer (Murer – Anatomie eines Prozesses) gezeigt. Ein paar vom Kameradschaftsbund waren da und verhielten sich still.

Denken der Brüderlichkeit

Die Sommerausstellung besteht aus den großformatigen Gemälden des 2012 vor dem Krieg in seiner Heimat geflohenen Syrers Adel Dauood. "Für mich hat er unglaublich großartige Bilder über das Ertrinken der Flüchtlinge im Meer gemalt. Aber es beschränkt sich nicht nur darauf, sondern es wird zu einem Gleichnis. Eine Gesellschaft versinkt. Man kann das sehen an diesem Triptychon, ein Schiffsdeck, da findet eine Art Maskenball statt und plötzlich sinkt dieses Schiff. Im zweiten Stadium sind sie unter Wasser, im dritten sind sie tot. Für mich ruft das das Gefühl hervor, dass die Menschen nur noch an sich und ihrem Wohlergehen interessiert sind, aber immer weniger an dem, was in der Welt geschieht. Das Denken in Brüderlichkeit ist verlorengegangen."

Das letzte Zusammensein mit Roth liegt schon länger zurück. Bei der jetzigen Begegnung fällt aber sofort auf, wie unablässig er die kleinsten Ereignisse der Umwelt registriert, wie er – zur leisen Irritation seiner Frau – die Dinge überwachen und einordnen will.

Seine ungebrochene literarische Produktivität erklärt er so: "Das ist die Dauerflucht vor dem, was man Wirklichkeit nennt. Es gibt für jeden Menschen zwei Welten, die erfundene und die reale. Für mich ist die erfundene wichtiger geworden als die, in der ich lebe. Als ich die beiden Romanzyklen mit Orkus beendet hatte, habe ich das letzte Jahr laut mit mir selber gesprochen. Die Senta hat gesagt: Warum redest du schon wieder mit dir? Das war, weil einzelne Figuren – ich habe ja 34 Jahre daran gearbeitet – sich dagegen gewehrt haben, dass sie sterben müssen. Ich hab mich schwergetan, einen Tod für einen zu finden, der mich schon seit Archive des Schweigens und Orkus begleitet hat. Ich habe keine Hemmungen, ihn sterben zu lassen, weil ich gesehen habe, ich komm sonst nie mehr los von den Figuren."

Wobei: Roth schreibt seit fünf Jahren an einem anderen Roman. Da kommt einer zurück, der im Orkus schon gestorben war. Er war nur untergetaucht. Die restliche Welt geht allerdings beinahe vollständig zugrunde. (Hans Rauscher, 11.7.2020)