Das Virus tanzt, wir tanzen mit. Einmal vor, einmal zurück. Doch Paul McCartney singt dazu die gefährlich schöne Melodie: "Oh! Oh, oh, oh."

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Joan was quizzical, studied pataphysical Science in the home Late nights all alone with a test tube Oh! Oh, oh, oh

The Beatles, "Maxwell’s Silver Hammer"

The Hammer and the Dance! Wie bezaubernd das geklungen hat, wie poetisch beinahe. Damals, als der schwere Hammer niedersauste und uns alle hineingescheucht hat ins Quarantäneloch. Nur jene mussten draußen bleiben, die wir, besorgt ums Häuslpapier, als die Systemrelevanten beklatschten und denen wir versprachen, ihnen ihre Systemrelevanz nie, nie, nie vergessen zu wollen.

Wir haben’s natürlich vergessen. Und das, ohne uns dafür besonders zu schämen. Denn nun, da der prognostizierte Tanz begonnen zu haben scheint – in Nordrhein-Westfalen wird aufgespielt, auf dem Balkan, unten am Schwarzen Meer, oben in Oberösterreich –, fürchten wir uns vor der zweiten Welle. Und damit haben wir eh wieder genug zu tun. Es geht ja, wenn schon nicht gleich ans, so doch ums Sterben.

Der Hammer und der Tanz! Damals im März, als der spanisch-französische Autor Tomás Pueyo seine gleichnamige Prognose zu den nun folgenden anderthalb Virusjahren veröffentlichte, galt uns das noch als beruhigende Aussicht. Jetzt wäre einmal, so hieß es, die Krot des Shutdown zu schlucken. Aber dann müsse nur noch zielgenau hingedengelt werden mit einem Hämmerlein auf die je lokalen Veitstänze.

Nach und nach wurde selbst den Beatles das Absingen der Serienmörder-Hymne etwas langweilig und sie begannen, wenigsten beim Probesitzen, ein bisserl zu spielen.
The Beatles - Topic

Ich bin nicht bewandert in den viralen Dingen. Doch seit damals, als die Rede aufkam vom Niederhämmern der Ansteckungskurve, kriege ich die alten Beatles nicht mehr aus dem Kopf. Auch jetzt noch ertappe ich mich dabei, wie ich gedankenverloren vor mich hinpfeife. Manchmal passiert das peinlicherweise sogar in Gesellschaft: "Bang! Bang! Maxwell’s Silver Hammer came down upon her head." Sie klingt so fröhlich, diese wie ein Kinderlied tänzelnde Moritat von "Maxwell Edison, majoring in medicine". Die junge, schöne Joan war gerade vertieft in die pataphysische Wissenschaft. Dann, spätnachts: "Oh! Oh, oh, oh."

Oh! Oh, oh, oh. Über das Willkürliche von plötzlich auftretenden Ohrwürmern hinweg scheint das ein ganz gutes Motto zu sein für die merkwürdige Zeit, die wir gerade durchleben. Eine Niemandszeit des Bangens und des Hoffens. Keiner will sich ernsthaft vorstellen, dass es wird, wie es schon gewesen ist. Keiner aber will ausschließen, dass wir nicht gerade auf genau sowas hinsteuern. Jetzt steigt wieder die R-Zahl. Und wir, die wir schon begonnen haben zu vergessen, was eine R-Zahl ist, sind wieder besorgt und sagen, ein jeder in seinen eigenen Worten – die einen eher siebengscheit, die anderen gar neunmalklug: "Oh! Oh, oh, oh!"

Sollen wir uns fürchten müssen? Sollen wir uns wieder wegsperren? Masken tragen? Den Babyelefanten zur Disziplin mahnen? Sollen wir auf den Kanzler hören? Den Minister? Auf die rote Ärztin? Auf Günther Mayer, den Chef der ORF-Wissenschaft, der oft so anschaulich-schöne Metaphern findet für all den Jammer? Oder doch auf die anderen, die es besserwissen? Brauchen wir jetzt wieder den silbernen Hammer zum Totschlagen der Todeswelle? Oder genügt, wie vorgesehen, der, mit dem wir zwar nicht den Nagel auf den Kopf, aber doch immerhin den eigenen Daumen treffen?

Denn ja: Auch der Tanz wird wehtun. Und weil das diesbezügliche Wehklagen zeitgleich millionenfach in der weiten Twitteria widerhallt, spüren wir alle den Schmerz. Und sehen das Wegducken. Und hören das Empören. Sind skeptisch bei den Skeptikern. Glauben das Nichtglauben und umgekehrt.

Das Coronavirus ist das erste in der Geschichte, das sozusagen viral geht. Vieles von dem, was uns so verstört, hängt wohl damit zusammen. Denn wir – Würschtel wie eh und je – sind so jederzeit überall: allgegenwärtig. Und darum geben wir natürlich zu allem unseren Senf dazu: allwissend.

Wir kennen uns auf dem schwedischen Weg genauso aus wie auf dem britischen Irrweg, wissen Bescheid übers überforderte brasilianische Bestattungswesen, das Marktamt von Wuhan, die besonderen Bedürfnisse des US-Präsidenten. Sowas überfordert dann schon manchmal. Denn es fordert beinahe die pataphysische Erkenntnistiefe oder -höhe oder -breite der schönen Joan. Und was mit der geschah ... Oh! Oh, oh, oh.

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Es würde hier zu weit führen, auf die näheren Details der Pataphysik einzugehen, der Paul McCartney, Maxwell’s Father, in den späten 1960ern in die Arme gelaufen oder in die Hände gefallen ist. Erdacht wurde diese "Wissenschaft von dem, was zur Metaphysik hinzukommt", vom französischen literarischen Solitaire Alfred Jarry (1873–1907). Der hat sie niedergelegt in den Heldentaten und Ansichten des Dr. Faustroll; und dieser Dr. Faustroll hält seine Vorlesungen offensichtlich weiterhin in der Twitteria. Dort hat er seine besten Schüler. Wo sonst fände man die "Lehre von den Epiphänomenen" so unverfälscht? Und zu welchem Thema so umfassend vertieft wie zum aktuellen Virus? Prof. Drosten? Der Schwede namens Tegnell? Dr. Fauci aus Amerika? Alle in Griff- und Kommentierweite.

Entwickelt sich der nächste Tanz – eine Reisewarnung jagt schon die andere – doch zum Hammer, sollte man in der nächsten Isolation also unbedingt den Jarry zur Hand nehmen. Das Drama des König Ubu zum Beispiel, in dem auch ein Sac à Phynance sein Unwesen treibt. Koste es also, was es wolle: Der Pfuinanzsack geht um!

In unseren wahrhaft etwas pataphysisch behauchten Tagen – "Die Pataphysik ist die Wissenschaft imaginärer Lösungen." – hat das aber möglicherweise den Witz des Imaginären ein wenig verloren. Ohnehin haben wir schon vor dem Virus längst damit begonnen, Jarrys ordinär vor sich hin rüpelnden König Ubu, eine Theaterfigur von Shakespeare’scher Erbarmungswürdigkeit, als eine wie aus unserem Leben gegriffene wahrzunehmen. Wenn aber Bühnenmonster ins Fleisch steigen: Oh! Oh, oh, oh.

Hier erlitt den silbernen Hammer nicht Joan, sondern – mit deutlich mehr schmalziger Entschlossenheit in der Stimme – John.
Beatle Stories

Unlängst saß ich mit Freunden und mit Freundinnen zusammen. Wir redeten, wie immer, über dies und das, also angeregt über Fußball und aufgeregt übers Politische oder umgekehrt. Erörtert wurde, wo eigentlich mehr Geisterspiele stattfinden; da oder dort? Wir kamen zu keinem klaren Ergebnis.

Eine fragte dann, hinein in eine peinliche Gesprächspause, was ich denn da so penetrant pfiffe. Und also fing ich an zu erzählen. Aber eh nicht, ohne vorher daran erinnert zu haben, dass, wenn solche Gesprächsstillen entstehen, es der Brauch wäre zu fragen: "Is a Pfarrer gstorben?"

"Höchstwahrscheinlich", sagt drauf einer. Oder habe in den letzten Wochen irgendwer irgendeinen Pfarrer gehört? Den Bischof gar? Papst? In Tagen, da der Herrgott herzeigt mit seinem nackerten Finger auf uns, schweigen sie eisern.

Nicht, dass wir uns ein outriert pastorales Salbadern wünschen. Aber genügt es, wenn bloß Greta Thunberg anmahnt, dass, wer dem Herrgott ins Handwerk pfuscht, zu rechnen hat damit, dass der ihm ins Tagwerk pfuscht? In den Schlachthöfen, den komischen Pfingstkirchen, den Sklavenhaltereien mitten in Mitteleuropa? Ja, in solchen Tagen neigt man dazu, ins Grundsätzliche, himmelwärts sozusagen, hinanzuschweifen.

Die Pataphysik, so erläutert es Dr. Faustroll, erhebt sich über die Metaphysik in dem Maße, in dem diese sich über die Physik erhebt. In diesem Stadium hängen offenbar auch die Virologen gerade fest. Sehr ungewiss, wie es von dort aus weitergeht.

Ich fuhr dann nach Hause. Erwarb noch zwei Großpackungen Häuslpapier und ein paar Papiermasken. Man weiß ja nicht. Die ungarischsprachige Systemerhalterin sagte: "Oh! Oh, oh, oh."

Ich widersprach nicht, sondern eilte flugs heim und fürchtete mich ein bisserl. Aber komischerweise – oder nicht komischerweise – nicht allein vorm Virus selbst. (Wolfgang Weisgram, 11.7.2020)