Die Diskussion um einen sogenannten „politischen Islam“ findet kein Ende, zumal die Regierung aufgrund einzelner jüngerer Vorfälle in Wien wieder auf die Einrichtung einer eigenen Dokumentationsstelle für eben diesen "politischen Islam" hingewiesen hat. Diese wird aktuell installiert und deren Leitung soll noch dazu gendergerecht besetzt werden. Man darf gespannt sein.

Die Debatte darüber schwelt schon länger und entzündet sich zum einen an der Begrifflichkeit „politischer Islam“, zum anderen an der Frage, ob man das wirklich auf den Islam beschränken sollte oder darf. Dabei berührt diese Frage zentrale Momente des Verhältnisses von Staat und Religionen, das sich schwieriger gestaltet als oft angenommen.

Naivität ist nicht angebracht

Einige machen es sich in der Debatte einfach oder agieren schlichtweg naiv. So wurde beispielsweise als Argument gegen den Begriff "politischer Islam" ins Spiel gebracht, dass es ja auch ein "politisches" Christentum gäbe, wofür unter anderem das (weithin vermutlich nicht so bekannte) Werk des deutschen Priesters und Fundamentaltheologen Johann Baptist Metz zitiert wurde. Dass dessen Programm einer "politischen Theologie" aber auch gar nichts zu tun hat mit den Aktivitäten von Gemeinschaften, die im Zentrum der Debatte um einen „politischen Islam“ stehen, sollte eigentlich auf der Hand liegen.

"Politischer Islam"

Denn bei dieser Diskussion geht es nicht um das politische und gesellschaftliche Engagement von Muslimen, das im Gegenteil sehr zu begrüßen wäre, sondern um etwas ganz anderes: Gemeinschaften und Organisationen, die unter Bezug auf die islamische Tradition an der Etablierung von Strukturen arbeiten, die einen von ihnen konstruierten, im Übrigen sehr inhaltsleeren „Islam“ in der Gesellschaft installieren sollen und damit aber die Grundfesten eines liberalen, säkularen Staates aushebeln.

In diesem Sinne wird im Übrigen der Begriff „politischer Islam“ beziehungsweise das häufiger verwendete Synonym „Islamismus“ auch in der wissenschaftlichen Literatur verwendet: die Bezugnahme auf „den Islam“ als, wenn man so will, verabsolutierte Ideologie (und in einer sehr reduzierten Form und ohne substantielle Bindung an die Breite der islamischen Tradition) und der Versuch der Etablierung von Organisationen, die eben dies in der Gesellschaft umsetzen sollen – wobei insgesamt relativ nebulös bleibt, was man hier wirklich realisieren will (außer eben "den Islam"). Viele dieser Strömungen sind rezente Entwickungen innerhalb des Islam, die viel mit den Grundspannungen zwischen islamischer Welt und dem Westen zu tun haben, die sich seit dem 19. Jahrhundert entwickelt haben. Dazu zu zählen sind aktuell zudem auch offensichtliche Versuche von fremdstaatlicher Seite, spezifische Formen des Islam hierzulande zu fördern und damit die Entstehung von Parallelgesellschaften zu fördern. Das alles sollte sich kein Staat gefallen lassen.

Um es einmal konkreter anzusprechen, was eine Aufgabenstellung für eine so geartete Dokumentationsstelle sein würde: Können für Gemeinschaften wie etwa Millî Görüş oder die Muslimbruderschaft dezidiert Aktivitäten nachgewiesen werden, die man von staatlicher Seite aus zu problematisieren hätte (oder aber eben nicht)? Wie steht es um die Aktivitäten salafistischer Kreise? Begnügen sich diese mit einer quietistischen Version ihrer Lehre oder agieren sie gar aggressiv nach außen? Aktuell sieht die Datenlage diesbezüglich eher dürftig aus. Zur Muslimbruderschaft in Österreich gibt es beispielsweise eine Studie eines amerikanischen Terrorismusforschers, doch sammelt dieser Text im Grunde genommen nur die schon bekannten, aber eher vagen Medienberichte der letzten Jahrzehnte, die immer wieder aufpoppen. Neue Einsichten bringt sie darüber hinaus aber keine.

Faktenbasierte Dokumentation ist gefragt

Eine vernünftig ausgestattete staatliche Stelle könnte, wenn sie saubere Arbeit leistet, hier in der Tat Grundlagenarbeit leisten. Absolute Voraussetzung dafür ist natürlich eine ausreichende Ausstattung, eine gesicherte Unabhängigkeit dieser Stelle und eine Begleitung durch einen breit und auch mit Kritikern des Konzepts besetzten wissenschaftlichen Beirat. Damit einher geht aber auch die Bereitschaft, nach außen hin deutlich zu machen, wenn das Ergebnis der Untersuchungen darauf hinausläuft, dass es möglicherweise keine wirklich gravierenden Probleme gibt. Denn eines sollte auf jeden Fall vermieden werden: Eine Stelle, die nur um des Selbsterhaltes willen jedes Jahr verlässlich einen Bericht mit dem vorhersehbaren Inhalt veröffentlicht, wie gefährlich der "politische Islam" im abgelaufenen Jahr wieder einmal war und weiterhin ist. Das könnte uns dann sehr lange erhalten bleiben. 

Nur der Islam?

Damit scheint die grundsätzliche Idee einer solchen Stelle gar nicht so schlecht, weil man damit auf aktuelle Entwicklungen und eine gewisse Unruhe und Fragehaltung in der Gesellschaft reagiert. Gut recherchierte Grundlageninformation scheint hier hochwillkommen. Offen muss allerdings bleiben, ob die Fokussierung auf den Islam allein nicht problematisch ist. Dies hinterlässt angesichts der aktuellen Diskussion in der Tat einen schalen Beigeschmack und steht ganz eng im Zusammenhang mit einer grundsätzlichen Problematisierung des Islam auf der globalen Ebene spätestens seit 9/11. Das hat zwar, wie schon angesprochen, durchaus reale Hintergründe, denen man nicht mit Naivität begegnen darf (und die man sich auch nicht von postkolonialen Theoriekonstrukteuren zerreden lassen sollte). Doch verstellt es den Blick auf das eigentlich dahinterliegende Problem: die Frage, wie eine liberale, westliche Demokratie an sich mit Religionen und ihren vielförmigen Ansprüchen umgehen soll.

Nicht nur der Islam sollte in die Betrachtung miteinbezogen werden.
Foto: KARIM SAHIB / AFP

Zu diesen Ansprüchen gehören selbstverständlich auch gesellschaftliche und politische, weil keine Gemeinschaft völlig isoliert in einer Einsiedlerblase agiert und ein wesentlicher Aspekt von Religionen auch die Gestaltung des Miteinanders ist. Diese Ansprüche müssen sich aber in das Gefüge einordnen, das aktuell durch den rechtlichen Rahmen vorgegeben ist. Damit steht es Staaten wiederum auch zu, Grenzen zu setzen und für sich zu definieren, wo so etwas wie "religiöser Extremismus" oder eine "problematische Form von Religion" beginnt. Viel sinnvoller und ausgeglichener wäre es somit, eine Stelle anzudenken, die generell diskussionswürdige Aktivitäten religiöser Gemeinschaften monitorisiert. Denn, ja, es gibt in diesem Sinne auch ein „politisches Christentum“. Und dabei geht es nicht um das theologische Werk irgendeines Gelehrten, sondern um Aktivitäten von Gemeinschaften, die unter Bezug auf (wie auch immer interpretierte) christliche Werte Grundkonsense der westlichen Demokratien problematisieren. Ein Beispiel wären die offensichtlich und glücklicherweise wieder eingeschlafenen Bestrebungen eines Steve Bannon, des geschaßten Wahlkampfmanagers Donald Trumps, seinen seltsamen Katholizismus in Europa in Form einer Akademie zu exportieren und als Modell für ein neues Europa zu präsentieren. Und das wäre jetzt nur ein Beispiel von vielen anderen, die man aus dem breiten Spektrum der christlichen Tradition zitieren könnte. 

Klare Grenzziehungen und Vorgaben

Dabei muss auch klar ausgesprochen werden, wo und wann ein Problem gegeben ist und welche Grenzen gesetzt werden sollen. Ein diffus artikuliertes Unbehagen darf keine Argumentationsgrundlage sein. Das Tragen beispielsweise eines spezifischen Kleidungsstückes allein kann ja wohl kein Bedrohungsgrund sein. Wie steht es aber, um ein anderes Beispiel zu zitieren, um eine vom aktuellen Meinungsbildnertrend abweichende Meinung zum Thema gleichgeschlechtliche Partnerschaften, einen klassischen Knackpunkt für viele Religionen, die in den meisten Fällen sehr konservative Familienstrukturen favorisieren? Wenn eine muslimische Organisation hier eine abweichende Meinung hat, dann würde das vermutlich von einer eigens dafür eingerichteten Dokumentationsstelle problematisiert und in ihren Berichten angezeigt werden. Wenn solche Dinge aber ein Katholik oder ein protestantischer Freikirchler sagt, dann stellt das kein Problem dar? Wobei sich eine weitere, viel entscheidendere Frage aufdrängt: Wann ist das ein Problem für einen Staat?

Der Staat und seine Religionen: von den "Sekten" zum Islam

Damit liegt dahinter ein sehr weitreichendes grundsätzliches Thema: Wie weit darf staatliches Monitoring religiöser Gemeinschaften gehen, ohne deren Autonomie und die staatlich garantierte Religionsfreiheit in Frage zu stellen? Wo liegen die Grenzen und wo die Themen, die angezeigt werden müssen oder sollten? Und wieviel "hält" eine Gesellschaft aus, ohne gleich in Hysterie zu verfallen? Wenn "religiöser Extremismus" ein Problem ist (und darüber müsste man zuvor debattieren), dann gibt es in der Tat eine Lücke, die es auszufüllen gäbe. Dabei ist der alleinige Fokus auf nur einen Aspekt der Religionenlandschaft immer nachteilig, zumal sich die Fragestellungen im Laufe der Zeit wieder ändern. Ein gutes Beispiel gibt hier die Debatte um sogenannte "Sekten", die ab den 1960er-Jahren in Europa mit großer Heftigkeit geführt wurde und in den 1990er-Jahren einen Höhepunkt erlebte. Man warnte vor der Zerstörung traditioneller Familienstrukturen, der wirtschaftlichen Ausbeutung von Menschen oder gar vor der Unterwanderung des Staates durch die neuen Gemeinschaften.

Wie viel hält ein Staat aus?

Die Sekten-Diskussion ist heute weitgehend beruhigt, nicht zuletzt auch deshalb, weil sich deren Gefährlichkeit und ihr angeblich weitreichender Einfluss als nicht so dramatisch erwiesen haben. Man hatte zudem zu lernen, dass Einzelfälle kein Anlass für ein Pauschalurteil sein können, sondern vielmehr differenzierte Auseinandersetzung vonnöten ist. An die Stelle der Sektendiskussion ist nun vielfach, auch was die Argumentationsmuster betrifft ("Gehirnwäsche", "Unterwanderung des Staates"), die Diskussion um den Islam getreten. Vielleicht erweist sich auch diese einmal in der Nachbetrachtung als übertrieben (und im Übrigen deutet viel darauf hin, dass auch diese Debatte ihren Höhepunkt schon überschritten hat).

Bis dahin könnte aber gerade solches eine Dokumentationsstelle thematisieren, freilich ohne Religionen-Bashing zu betreiben. Denn umgekehrt kann man es sich nicht so leicht machen und einen Generalverdacht gegen Religionen aussprechen, wie das immer wieder von säkularen Verbänden gefordert wird. Religionen sind und werden auch weiterhin ein relevantes Element der Gesellschaft bleiben und nicht nur ein Problemfall, den es auszumerzen gilt. Die große Aufgabe ist somit, die Waage zu halten in Bezug auf die Weite und Breite der Liberalität einer modernen Gesellschaft. Nicht zuletzt blüht ja insbesondere in Diktaturen die staatliche Kontrolle von Religionen. Und dahin wollen wir wohl alle nicht. (Franz Winter, 24.7.2020)

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