Würden Sie diesem Mann seine Liebe zur atonalen klassischen Musik abnehmen? Frank Zappa, gemeinsam mit den Mothers unterwegs zu dem Underground-Film "200 Motels".

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Menschen, die seine vor schrägen Einfällen strotzende Musik als abwegig empfanden, begegnete Frank Zappa betont nachsichtig. An den Toncollagen seiner Mothers of Invention sei nichts seltsam oder abwegig. Als verrückt empfände er höchstens ein "Skelett über dem Klosett, mit einer Gummimaske voller Warzen auf der Nase". Zappa (1940–1993) pflegte seine Rolle als kalifornischer Bürgerschreck zu ironisieren. Seine hingebungsvolle Liebe zur Moderne, zu Edgar Varèse und dessen Musik für Sirene und Orchester, begleitete ihn sein Leben lang.

"Abwegig" sei für ihn, Zappa, höchstens das Geplärre aus US-Formatradios. So lange Musik mit einigem Geschmack und Geschick komponiert würde, sei ohnehin alles erlaubt. Man könne dann ohne schlechtes Gewissen alle Töne auf dem Klavier gleichzeitig anschlagen. Ein Zementlaster überrollt anschließend das Klavier? Kein Problem. Die Zündung einer kleinen Atombombe? Wenn der Komponist weiß, weshalb das Uran gespalten wird: warum nicht?

Die Jahre nach Zappas frühem Krebstod haben seinem Nimbus als coolem Zyniker der Gegenkultur doch einiges anhaben können. Ein von den Kindern betriebener "Trust" wirft mit schöner Regelmäßigkeit neue Bänder auf den CD-Markt. Der im "Gewölbe" des Zappa-Anwesens in L.A. gehäufte Nibelungen-Schatz besteht aus Tonaufnahmen, deren Entstehung bis weit in die 1960er zurückreicht.

Neue Schatzkiste

Die neueste Schatzkiste umfasst Zeugnisse aus einer besonders reizvollen, weil nahbaren und nachvollziehbaren Übergangsphase. "The Mothers 1970" zeigt den Meister um Konsolidierung bemüht; vorbei das kollektive Ausflippen verwegen kostümierter Gammler, die aus dem Abfall der US-Kulturindustrie schrill tönende Musikskulpturen geknetet hatten (man denke an das famose Doppelalbum "Uncle Meat", 1969).

Die neue, alte Box errichtet hingegen dem Jazzrocker Zappa ein vielleicht verwittertes, auf jeden Fall aber strahlendes Denkmal. An dieser wüst verorgelten Musik, mit ihren vier bis fünf Tempuswechseln pro Takteinheit, können wiederum Feinde der Vieltönerei ihr Mütchen kühlen. Menschen, für welche die Entwicklung der abendländischen Musik mit dem ersten Album von The Clash (1977) im Wesentlichen abgeschlossen war, dürfen getrost weghören.

Für alle anderen aber, zumal für die passionierten Zappa-Sammler, wird ein wichtiges Scharnier sicht- wie hörbar. Noch immer dominieren die pfiffigen, kühn ineinander verschachtelten Kindermelodien, die das Einwandererkind Zappa den Comedy-Musikern Spike Jones and His City Slickers abgelauscht hat.

Hinzu kommt Zappas neugewonnenes Selbstvertrauen als Gitarrist. Sein modales Geklampfe schmiegt sich perfekt der Blues-Form an. Bereits zu Anfang des neuen Jahrzehnts (der Siebziger) entwickelt dieser beiläufigste aller Griffbrettvirtuosen seinen unnachahmlichen "Rede"-Stil: die Manier, syllabisch zu musizieren (pro Silbe ein Ton), als ob sein besaitetes Brett zu uns spräche.

Eine Gruppe der hier erstmals versammelten Songs entstand im Juni 1970 in den Londoner Trident-Studios: Vorarbeiten zu dem, woraus später die kanonische "Chunga's Revenge"-Platte hervorgehen sollte. Die Live-Aufnahmen verströmen allein schon deshalb anarchisches Flair, weil sie unter Mitwirkung der beiden Hippie-Goldkehlen Flo & Eddie entstanden sind (Howard Kaylan, Mark Volman von The Turtles). Und, wie Zappa auf Nachfrage eines Rundfunkmoderators bekennt: Ja, möchte man Erfolg haben wie The Turtles, empfiehlt es sich, zwei Turtles in die Band aufzunehmen!

Ein Mann namens Nixon

Der Rest ist herrlichste Musik der Welt, voller anzüglicher Witze über Grünzeug, schlechte Atemluft und aufdringliche Groupies. Damals durfte man das. Man erschreckte rechtschaffene Bürger. Man arbeitete sich an Republikanern und deren betrügerischen Präsidenten ab (der damalige hieß übrigens Richard Nixon und wurde "Dickie" gerufen).

An den Keyboards orgelt – neben Ian Underwood – bereits George Duke mit: Zappas Musik wird zusehends funky. Anklänge an spätere Heldentaten wie "Roxy & Elsewhere" findet man zuhauf (nicht immer in HiFi-Qualität). Zappa lässt es sich und seinen Mothers auch nicht nehmen, Strawinsky zu zitieren, circa 50 Sekunden lang.

Noch ist es ein weiter Weg für diesen US-amerikanischen Anton Webern aus dem kalifornischen Laurel Canyon. Er wird später mit klassischen Orchestern arbeiten, unter anderem mit Avantgarde-Papst Pierre Boulez kooperieren – und sich doch auch für Lieder über Urinflecken im Schnee, für Zoten über Damenunterwäsche niemals zu schade sein. Das lässt sich auf geschätzt 147 Alben bis dato gepflegt nachhören. Wer wollte da auf die neue Viererbox "The Mothers 1970" (Universal) ernsthaft verzichten? (Ronald Pohl, 14.7.2020)